Abschlussbericht Projekt Koloniebildung (1999)
Der Putsch der Generäle
Das Jahr 1980, genauer gesagt der 12. September 1980, stellt eine Zäsur in der Geschichte der Zuwanderung aus der Türkei
nach Hannover dar. Alles, was sich nach diesem Datum in der türkischen Szene Hannovers ereignete, muß unter einem anderen
Blickwinkel betrachtet werden als die Ereignisse in der Zeit davor. Dabei ereignete das umwälzende Geschehen sich gar nicht in Hannover,
ja nicht einmal in der BRD, sondern es betraf in erster Linie die Türkei: Am 12. September 1980 übernahmen dort die Generäle die
Staatsmacht, setzten die Verfassung außer Kraft und liquidierten mit rücksichtsloser Härte sämtliche Organisationen der politischen
Linken und der Gewerkschaften. Wer von den Führungskadern nicht untertauchen konnte, wurde entweder erschossen oder eingekerkert.
Zehntausende wurden unter fragwürdigen Umständen zu langjährigen Haftstrafen verurteilt, Hunderte wurden
hingerichtet.[1] Wer immer konnte, floh ins Ausland. Dabei wurde die BRD
der wichtigste Zufluchtsort in Europa. Es ergab sich daher die außergewöhnliche Situation, daß die gesamte, noch handlungsfähige
Führung der türkischen Linken und der türkischen Gewerkschaften sich in Westeuropa befand. Der größte Teil davon versuchte, sich
in der BRD zu reorganisieren — mit dem einzigen Ziel einer baldigen Wiederaufnahme des Kampfes in der Türkei.
Wie weiter oben bereits am Beispiel des „Revolutionären Arbeitervereins“ aufgezeigt, gab es für diese meist hochgebildeten politischen Kader nur noch ein legitimes Thema: den Kampf gegen den Faschismus in der Türkei. Das bekamen nicht nur alle türkischen Vereine in Hannover zu spüren, sondern es veränderte sich auch das Klima insgesamt in der hannoverschen türkischen Szene: Die politischen Auseinandersetzungen nahmen an Härte und Brutalität rasch zu.[2]
Waren es in der zweiten Hälfte der 70er Jahre zumeist die damals zahlenmäßig überlegenen und besser organisierten Rechten gewesen, die Konflikte mit Knüppeln, Messern und Steinen auszutragen versuchten, schlugen nun die Linken mit ähnlichen Mitteln zu. Die Moscheevereine und die Tarnvereine der Grauen Wölfe waren nicht mehr einfach politische Gegner, sondern sie erschienen als fast schon dämonische Repräsentanten des blutrünstigen Militärregimes in der Türkei. Hinzu kam, daß während der Amtszeit von Generalkonsul Vedat Erkul (September 1978 bis Januar 1983) das türkische Konsulat in Hannover dem rechtsradikalen Lager zuneigte und kaum zur Verminderung der Konflikte beitrug.[3] Vorfälle wie die Ermordung eines Vorstandsmitglieds des Revolutionären Arbeitervereins, İlyas Yıldırım, die Anhängern der Grauen Wölfe angelastet wurden, taten ein übriges, um das Klima zu verschärfen.[4]
Gewalttätigkeiten zwischen Linken und Grauen Wölfen anläßlich von Veranstaltungen oder Demonstrationen der einen oder der anderen Seite häuften sich in den nächsten Jahre, teilweise kam es zu blutigen Straßenschlachten.[5] Insbesondere die meist sehr aggressiven Kundgebungen der Linken vor dem türkischen Generalkonsulat im Anzeigerhochhaus, das jeweils von einem großen Polizeiaufgebot geschützt wurde, bekamen schon fast rituellen Charakter. Da zur gleichen Zeit auch innerhalb des islamisch-religiösen Lagers massive Machtkämpfe begannen, die zu Spaltungen, Prügeleien und Gerichtsverfahren führten, und die religiös-kulturelle Minderheit der Aleviten[6] ihrerseits — von den anderen weitgehend unbeachtet — erste Organisationsstrukturen aufbaute, verlor die in der ersten Hälfte der 80er Jahre auf fast 20.000 Personen angewachsene Gruppe der türkischstämmigen HannoveranerInnen (siehe Tabelle 8 auf der nächsten Seite) auch den letzten Anschein von Einheitlichkeit. Falls der Kolonie-Begriff überhaupt einen Sinn macht, kann man ihn spätestens ab dieser Zeit nur noch im Plural („die türkischen Kolonien von Hannover“) benutzen.
Quelle: Statistikstelle der Stadt Hannover
Für die Zeit vor 1960 liegen nur unregelmäßige Daten vor.
Tabelle 8: EinwohnerInnen mit türkischer Paß in Hannover (1950-1995)
Vielleicht am deutlichsten läßt sich die höchst ambivalente Auswirkung der massiven Zuwanderung einer völlig neuen Elitegruppe mit klarem Führungsanspruch aufzeigen am Höhenflug und Absturz der Türkischen Gemeinde Hannover. Angesichts der konkurrenzlosen Bedeutung der TGH verstand es sich von selbst, daß sich die Bemühungen der Neulinge um Einflußnahme hier konzentrierten. Einer der damals aktivsten politischen Flüchtlinge, die sich ei der TGH engagierten, war Bülent Demiral — heute ein erfolgreicher Geschäftsmann. Er und andere Kader aus der Türkei stiegen in den Vorstand der TGH auf, wo alsbald ein Machtkampf mit Teoman Atalay um die Führung des Vereins entbrannte. Die Stilisierung der jeweiligen Gegenpartei als „Maoisten“ bzw. als „Feudalherren“ ließ dabei kaum Kompromisse zu.[7] Unter dem Vorwand, eine vereinsinterne Demokratisierung durchsetzen zu wollen, betrieb die Gruppe um Bülent Demiral unverblümt die Absetzung des Vereinsgründers und amtierenden Vorsitzenden Atalay. Gleichzeitig forderten sie eine Umorientierung der Vereinsarbeit. Die kompensatorischen Bildungskurse für Jugendliche blockierten ihrer Auffassung nach eigentlich nur die wesentliche Aufgabe des Vereins: eine Politisierung der Jugend für den Kampf um gesellschaftliche Gerechtigkeit.
Die Konflikte auf den Vorstandsitzungen wurden zusätzlich dadurch verschärft, daß der Verein sich ab 1981 mit finanzielle Problemen konfrontiert sah. Die Neue Heimat, Eigentümerin des Hauses Münzstraße 4, in welchem die TGH Hauptmieter war, hatte das Haus an eine Göttinger Immobilienfirma verkauft.[8] Die neue Besitzerin versuchte umgehend, den Mietpreis zu vervierfachen. Da die Verhandlungen zu keiner Einigung führten, wurde von Seiten der Besitzerin der Mietvertrag zum Juni 1982 gekündigt. Die TGH suchte händeringend nach einem Ersatzhaus — ohne Erfolg.[9] Nach neuerlichen Verhandlungen mit der Immobilienfirma einigte man sich schließlich auf einen neuen Vertrag, der eine Monatsmiete von 22.000 Mark vorsah. Da gleichzeitig die Förderung der TGH durch die Stadt auf 6.500 Mark (jährlich!) gekürzt worden war, mußte der Verein diese gewaltige Mietzahlung ganz allein aufbringen.[10] Eine solche Belastung hätte äußerste Professionalität des Vorstands erfordert, dieser konnte sich aber — trotz sechsstelliger Jahresbilanzsumme — nicht einmal dazu durchringen, die Hilfe eines Steuerberaters in Anspruch zu nehmen.
Im Spätsommer 1983 geriet der Verein in eine ernste Finanzkrise, weil wegen mangelhafter Abrechnungen über 100.000 Mark an öffentlichen Unterstützungsgeldern für bereits abgewickelte Sprach- und Bildungskurse nicht ausgezahlt wurden.[11] Im August desselben Jahres wagte man sich an die Eröffnung eines regulären Restaurants namens „Divan“, das mit türkischen Spezialitäten Gewinne für die Vereinskasse einspielen sollte.[12] Dies konnte jedoch auch nicht mehr verhindern, daß die TGH im Dezember 1983 endgültig zahlungsunfähig wurde.[13] In dem nachfolgenden Hauen und Stechen im Vorstand ging die Handlungsfähigkeit des Vereins schließlich vollends verloren. Teoman Atalay, der kurz vor dem Bekanntwerden des Finanzdesasters vom Vereinsvorsitz zurückgetreten war, sah sich mit härtester Kritik konfrontiert. Die verbliebenen Vorstandsmitglieder erstatteten Anzeige gegen ihn wegen Veruntreuung von Vereinsgeldern, Atalay reagierte mit Verleumdungsklagen. Der förmliche Konkursantrag vom 19. Januar 1984 war die letzte Handlung der TGH.[14] Wenige Wochen später fand sich nicht einmal mehr genug Vereinsmitglieder für eine Selbstauflösung.
Das dramatische Scheitern der TGH führte zur einer Reihe von Nachfolgegründungen. Sowohl Teoman Atalay als auch andere Vorstandsmitglieder versuchten sich mit neuen Vereinsgründungen, die jedoch rasch Schiffbruch erlitten.[15]
Mit dem unrühmlichen Ende der TGH war unwiderruflich die letzte Institution verschwunden, die nicht nur einen Anspruch auf eine hegemoniale Stellung innerhalb der Gruppe der Türkischstämmigen der Stadt erhob, sondern ihn auch zumindest in Ansätzen hatte einlösen können. Wie zur Bestätigung dieser Feststellung brach unmittelbar nach dem Konkurs der TGH ein wahres Gründungsfieber von türkischen Vereinen in Hannover aus. Die Liste der Neueintragungen beim Vereinsregister Hannover für das Jahr 1984 zählt nicht weniger als neun Vereine, während in der Dreijahresspanne 1981 bis 1983 nur fünf Vereine neu hinzukamen.[16] Die Ausdifferenzierung der Vereinslandschaft nahm nun ungebremst ihren Lauf (siehe Tabelle 9).
Quelle: Eigene Auswertung des Vereinsregisters am Amtsgericht Hannover
Tabelle 9: Neugründungen und Gesamtzahl türkischer Vereine in Hannover (1970-1990)
Allein vier der neun Neugründungen des Jahres 1984 gingen auf die Szene der Islamisten zurück.
Von den anderen Vereinsgründungen des Jahres 1984 führten zwei eine nur sehr kurze Existenz: zum einen der oben bereits erwähnte, gescheiterte TGH-Nachfolgeversuch „Türkisch-Deutsche Freundschaftsverein e.V.“[24], zum anderen ein „Türkischer Volksverein in Hannover e.V.“, der über die Eintragung ins Vereinsregister nicht hinaus kam und keiner weiteren Erörterung bedarf. Die zur gleichen Zeit gegründete „Gesellschaft zur Förderung behinderter türkischer Kinder e.V.“ existiert hingegen auch heute noch. Als vorrangig bundesweit agierende Einrichtung berührte sie allerdings die Entwicklung der türkischen Vereinsszene in Hannover nur wenig, obwohl mit Nimet Gökçe und Arif Aydoğdu zwei stadtbekannte Persönlichkeiten zum Gründerkreis gehörten.[25]
Bei den beiden restlichen neu entstandenen Vereinen handelt es sich um typische „Kaffeehaus-Vereine“, das heißt, sie betreiben ein vereinseigenes Lokal und haben über das gesellige Beisammensein der Vereinsmitglieder hinaus keine besonderen Ambitionen.
In der zweiten Hälfte der 80er Jahre befanden sich also rund um das Steintor bereits drei größere, türkische Kaffeehäuser. Durch das Hinzutreten mehrerer kommerzieller Konkurrenten (z.B. Café Orient, Bistro Kaptan) festigte sich der Ruf des Steintors als „türkisches Viertel“, zugleich geriet es allerdings auch ins Zwielicht, weil hier angeblich illegales Karten- und Glücksspiel sowie Drogenhandel florierten. Insbesondere für gläubige Muslime wurde das Steintor so zum Inbegriff des sündigen Lebens, vor dem es „die Jugend“ zu bewahren gelte. Trotzdem zog die schon vorhandene Konzentration türkischer Treffpunkte (bis 1986 einschließlich des Generalkonsulats)[27] weitere Geschäftsleute aus der Türkei an, so daß sich das Steintor in den 90er Jahren vor allem an seiner nord-westlichen Seite zur Goethestraße hin mit einer fast geschlossenen „türkischen Front“ aus Gemüse-, Ex- und Importgeschäften, Reisebüros und Döner-Imbissen präsentiert. Die frühen türkischen Vereine wie Türkenselbstinitiative, die TGH und ihre Nachfolger haben diesen Wandel zwar initiiert, wurden aber im Laufe Zeit von Trendsettern zu unbedeutenden Randerscheinungen. Das Jahr 1986 markierte hierbei auch insofern einen wichtigen Einschnitt, als das Generalkonsulat mit seinem Wegzug vom Steintor ebenfalls sein sogenanntes „Türkei-Haus“ in der Stiftstraße 3-4 aufgab. Hier waren in den Jahren zuvor einige kleinere Vereine untergekommen, wie z.B. der Verein zur Erhaltung des islamischen Gebetsraumes[28], die Gesellschaft zur Förderung behinderter türkischer Kinder e.V. oder die gerade im Jahr des Wegzuges gegründete Initiative für eine „Vereinigung der türkischen Eltern in Hannover und Umgebung“.[29] Letztere überlebte den Verlust der Vereinsräume nicht und gelangte nicht einmal mehr zur Eintragung ins Vereinsregister.
Die Türkenselbstinitiative hatte Ende 1982 das Gebäude der ÜSTRA in der Goethestraße verlassen müssen und war einige hundert Meter weiter zum Marstall 6 umgezogen. Hier befand es sich in unmittelbarer Nachbarschaft von Peepshows und Sexshops, was für viele Besucher unerträglich war. Der Verein vermochte aber auch sonst nicht, an seine große Zeit in den 70er Jahren anzuknüpfen, er versank schrittchenweise in der Bedeutungslosigkeit. Anfang der 90er Jahre kam der Konkurs.[30]
Nach dem „Gründungsfieber“ des Jahres 1984 folgt zunächst eine „Flaute“: 1985 versuchte sich nur der unermüdliche Teoman Atalay mit der Gründung seines „Deutsch-Türkischen Familienclubs“, die rasch im Sande verlief.[31] Doch in den beiden nachfolgenden Jahren waren schon wieder neun Neugründungen zu verzeichnen, von denen allerdings nur fünf bis in die 90er Jahre hinein überdauerten.[32] (Hiervon wird der 1987 gegründete „Ayyıldız Sport-Club e.V.“ als reiner Fußballverein nicht weiter behandelt.)
Am undurchsichtigsten von den verbleibenden vier Vereinen ist die „Islamische Föderation in Niedersachsen e.V.“, über die man — wie bei allen Milli Görüş-Vereinen — als Außenstehender nur sehr wenig in Erfahrung bringen kann. Offenkundig als Dachverband für Milli Görüş nahestehende religiöse wie nicht-religiöse Vereine auf niedersächsischer Ebene gegründet, ist völlig unklar, ob die Föderation gegenwärtig noch besteht und wie aktiv sie ist.[33]
Im Vergleich dazu liest sich die Geschichte des „Türkisch-Deutschen Beratungs- und Begegnungszentrum Hannover e.V.“ wie ein offenes Buch. Es beruht auf der Initiative der sehr aktiven Dolmetscherin und Sprachlehrerin Yıldız El-Toukhy. Frau El-Toukhy lebt seit 1960 in Hannover, gehört also zur Pioniergeneration, die noch vor dem Anwerbevertrag zu Bildungszweken in die BRD kamen. Gemeinsam mit ihrem Ehemann, dem Journalisten und Schriftsteller Orhan Deliorman, versuchte sie seit 1978, mit einer Zeitung namens „Anavatan“ (Heimat) den Zuwanderern aus der Türkei Hannover als neue Heimat näher zu bringen. Wegen enormer finanzieller Probleme erschien die Zeitung jedoch nur sporadisch.[34] 1986 führte ein Brandanschlag — vermutlich von Rechtsradikalen verübt — zum Konkurs des Projekts. Die Vereinsgründung war ein Versuch, sich eine neue Basis zu schaffen: Der Verein organisierte Sprachkurse, die über ABM-Gelder und Zuschüsse des Sprachverband Mainz finanziert wurden. Die Rückwirkung in die Szene der Türkischstämmigen ging jedoch über diese Sprachkurse nicht hinaus, der Verein bestand faktisch nur aus dem Ehepaar El-Toukhy/Deliorman.
1993 gab Frau El-Toukhy ihrem Verein eine neue Zweckbestimmung, die sich auch in der Umbenennung in „Betreuung und Förderung von ausländischen Strafgefangenen e.V.“ niederschlug. Seither kümmert sie sich straffällige Jugendliche verschiedener Nationalitäten, der Verein bleibt jedoch chronisch überschuldet und befindet sich ständig am Rande des endgültigen Aus.[35]
Bleibenden Einfluß auf die Entwicklung in Hannover hatten letztlich nur zwei der genannten neun Neuzugänge: die Formierung von „Hür Türk“ und die Gründung der DİTİB-Moschee.
„Hür Türk“ ist eine Kurzform für „Hürriyetçi Türk-Alman Dostluk Cemiyeti“ (Freiheitlich Türkisch-Deutscher Freundschaftsverein), eine bundesweit operierende, konservative Vereinigung, die 1979 in Bonn mit Unterstützung der CDU und der Konrad-Adenauer-Stiftung gegründet wurde. Der Ortsverband Hannover entstand allerdings nicht als wirkliche Neugründung, sondern ging — wie bereits weiter oben angerissen — aus dem seit 1979 bestehenden „Verein zur Pflege des türkischen Kulturerbes und der Nationalisten e.V.“ hervor. Dieser offenkundige Tarnverein der Grauen Wölfe wurde 1984 von der Hür Türk-Zentrale in Bonn als Ortverband akzeptiert, die Umbenennung des Vereins scheiterte allerdings am Einspruch des Vereinsregisters.[36] Am Ende entschied man sich für eine formale Neugründung unter dem Namen Hür Türk.[37] Dies änderte jedoch nichts daran, daß der Verein bis in die 90er Jahre hinein von führenden Kadern der Grauen Wölfe (Abdurahman Kurtoğlu, Mehmet Genç u.a.) geleitet wurde.
Im Februar 1987 zog Hür Türk in das Gebäude Marstall 6 um, wo sich in einem anderen Stockwerk bereits die Türkenselbstinitiative befand. Seine einzige Aktivität bestand und besteht im Betrieb eines Kaffeehauses für seine Mitglieder — mit sehr preiswerter Kantine samt Friseurdienstleistung am Wochenende. Heute befindet sich das Vereinslokal im Untergeschoß des Gebäudes Marstall 4. In dem riesigen Saal treffen sich am Wochenende weit über 100 Personen bei Neonlicht und Rundumbeschallung mit türkischem Satelliten-TV zum Teetrinken, Kartenspielen und Debattieren. Die Gäste waren und sind ausschließlich Männer der ersten Generation. Hür Türk führt also als einer der letzten laizistischen, aber konservativen Arbeitervereine des alten Typs die Tradition der 60er und frühen 70er Jahre fort. Die hohe Besucherzahl beweist indessen, daß hierfür immer noch ein Bedarf besteht.
Einen Angebotslücke ganz anderer Art wurde 1987 durch die Gründung des „Türkisch-republikanisch-islamischen Religions- und Kulturvereins in Hannover e.V.“ geschlossen, der eine weitere türkisch-sunnitische Moschee in der Langen Laube 3 eröffnete. Initiator dieser fünften Moschee der Stadt[38] war das türkische Generalkonsulat. Das Präsidium für Religionsangelegenheiten (Diyanet İşleri Başkanliği) in Ankara hatte nämlich damit begonnen, die Konsulate in der BRD mit Religionsattachés auszustatten. Deren vordringlichste Aufgabe bestand darin, alle Moscheevereine im Einzugsbereich des jeweiligen Konsulats zum Eintritt in den 1984 gegründeten, amtlichen Dachverband DİTİB[39] zu bewegen oder, wo alle Bemühungen erfolglos blieben, einen entsprechenden DİTİB-Verein selbst zu gründen. Dieses plötzliche Bemühen der türkischen Regierung, die Moscheen in der BRD flächendekend mit staatlicher Unterstützung[40] zu versorgen, war weniger darauf zurückzuführen, daß man in Ankara — mit einer Verspätung von mehr als zwanzig Jahren — erkannt hätte, daß die türkischen Staatsbürger im Ausland auch einer religiösen Betreuung bedurften. Ursache war vielmehr der außerordentliche Erfolg der von den Migranten autonom und ohne jegliche Beteiligung des türkischen Staates gegründeten Moscheen. In Hannover beispielsweise waren, nachdem 1986 auch die Grauen Wölfe in der Striehlstraße 18 eine eigene Moschee eröffnet hatten,[41] alle vier existierenden Moscheen in Händen von islamistischen Strömungen, die der Regierung in der Türkei feindlich gegenüber standen und dort zum Teil sogar verboten waren.
Da keine dieser Gruppen mit DİTİB kooperieren bzw. sich der Kontrolle durch das Konsulat unterwerfen wollte, ermunterte man eine Handvoll Migranten der ersten Generation dazu, einen neuen, staatstreuen Moscheeverein zu gründen. Mit Ergin Okan wurde zudem ein erfahrener Veteran als Mentor des Vereins gefunden. Die neue Einrichtung in der Lange Laube 3 wurde rasch die meistbesuchte Moschee der Stadt; die Zahl der hannoverschen Muslime, die zwar gern das Freitagsgebet in der vorgeschriebenen Gemeinschaft verrichten bzw. ihre Kinder im Glauben unterrichten lassen wollten, sich aber nicht mit fundamentalistischen Organisationen nach Art der Milli Görüş oder der Süleymancı anfreunden mochten, war offenkundig groß.[42]
Okan bemühte sich in den folgenden Jahren intensiv um Förderung durch die Stadt, aber ohne Erfolg: 1989 wurde eine Grundförderung wegen der alleinigen Ausrichtung des Vereins auf religiöse Belange endgültig abgelehnt. Angesichts der drückenden Mietlast von 4.000 Mark monatlich für die Etage mußte der Vorstand des Moscheevereins sich eine Alternative einfallen lassen. Daher entschloß man sich zu einem gewagten Schritt: 1991 kaufte der Verein das Grundstück Stiftstraße 11 samt mehrerer Gebäude, die vormals u.a. eine Druckerei beherbergten. Die Kaufsumme wurde zum allergrößten Teil durch Spenden und zinslose Privatkredite der Vereinsmitglieder aufgebracht.[43]
„Wir waren zuerst zwei Jahre lang in der Langen Laube 3. Aber die Miete war einfach zu hoch und deshalb haben wir dieses Haus hier für eine Million Mark gekauft. Ein Teil habe ich gesammelt und den Rest haben wir als zinslosen Kredit von unseren Mitgliedern bekommen. Erst hatten wir einen Bankkredit, aber das paßt eigentlich mit dem Zinsverbot des Koran zusammen und war außerdem teuer. Deshalb haben die Mitglieder diesen Kredit in kleinen Stückelungen zu 10.000 Mark oder so abgelöst. Der Verein zahlt ihnen nach und nach zurück, jetzt [Oktober 1995] haben wir nur noch 120.000 Mark private Schulden dieser Art.“
(Auszug aus dem Interview mit Ergin Okan, Vorsitzender des DİTİB-Moscheevereins)
Das Finanzierungsmodell, das für die kleinen Geldgeber nicht ohne Risiko war, scheint also zu funktionieren. Es wurde später von anderen Moscheevereinen ebenfalls erfolgreich kopiert.
Weil der DİTİB-Dachverband darauf bestand, daß ihm angeschlossene Vereine entweder das Wort „Diyanet“ oder „DİTİB“ in ihrem Vereinsnamen führen, mußte sich auch der „Türkisch-republikanisch-islamische Religions- und Kulturverein in Hannover“ einer Umbenennung in „Türkisch-islamische Union der Anstalt für Religion DİTİB“ unterziehen.[44] Unter diesem Namen tritt er heute auf.
Die Ausdifferenzierung der türkisch-sunnitischen Vereinsszene kam schließlich 1988 mit der Eröffnung der „Haci Bayram Moschee“ auf dem Hinterhof des Hauses Humboldstr 21-22 zu einem vorläufigen Ende. Träger war der Verein „Türkisches Kulturzentrum e.V.“ — die einzige Neugründung des Jahres 1988. Hervorgegangen ist dieser Verein aus einer Spaltung des Graue Wölfe-Dachverbandes „Avrupa Demokratik Ülkücü Türk Dernekleri Federasyonu“ (ADÜTDF)[45], die 1987 zur Gründung eines konkurrierenden Verbandes unter Leitung Musa Serdar Çelibis führte. Çelibi war zuvor praktisch Alparslan Türkeş' Statthalter in Europa gewesen. Nach einem Zerwürfnis der beiden Faschisten-Führer[46] nutzte Çelebi seinen Zugriff auf die Organisationsstruktur der Grauen Wölfe in Europa, den er als langjähriger Generalsekretär der ADÜTDF erlangt hatte, und gründete mit seinen Anhängern die „Avrupa Türk İslam Birliği“ (ATİB)[47] .
Die Spaltung der Grauen Wölfe beruhte zu einem Teil darauf, daß allmählich die vollständige Fixierung aller Gedanken auf das Geschehen in der Türkei ihre Wirkung zu verlieren begann. Dieser Effekt trat nicht nur bei der Linken ein, auch innerhalb der rechtsextremen Bewegung erhob sich der Ruf nach eine Vertretung der Interessen vor Ort, in Deutschland bzw. in Westeuropa. Unter der Herrschaft von Parteichef Türkeş, der die europäische Diaspora nur als Ressource und Geldquelle für die Machtkämpfe in der Türkei betrachtete, konnte sich dieser Wandel hin zu einer Einwanderungspolitik in der BRD nicht durchsetzen. Ähnliche Prozesse führten bei der revolutionären Exil-Linken zur Spaltung zwischen den „Orthodoxen“ und den „Göçmen“ (zu deutsch: Einwanderer).
In Hannover erwies sich jedenfalls die Neugründung durch die Çelebi-Fraktion auf Dauer als erfolgreicher. Hatten der alte Verein vor der Spaltung noch deutlich über einhundert Mitglieder gehabt, sank die Mitgliederzahl des Restvereins danach offenbar so stark, daß die Türkeş-Anhänger 1991 Konkurs gingen und der alte Verein in der Striehlstraße liquidiert werden mußte.[48] Mit der kurz danach erfolgten Reorganisation als „Türkische Familienunion in Hannover und Umgebung e.V.“ (mit Moschee in der Lavesstraße) folgten die hannoverschen Türkeş-Anhänger nolens volens dem BRD-bezogenen Weg der Çelebi-Fraktion. In der neuen Satzung war nun nämlich von „Verbesserungen der Lebensbedingungen“ und von „Integration“ die Rede. Die Satzung des Türkischen Kulturzentrums der Çelibi-Anhänger war allerdings viel expliziter und benannte offen die Sorgen ihrer Mitglieder, die beispielsweise nicht selten mit großen Problemen bei der Erziehung ihrer Kinder zu kämpfen hatten:
„§2 Der Verein befaßt sich mit den sozial-kulturell-religiösen und Erziehungsproblemen der türkischen Mitbürger, die in Hannover leben und setzt sich für die Verbreitung der türkischen und deutschen Kultur ein, damit sich beide Gesellschaften besser verstehen und ihr tägliches Leben miteinander in Freundschaft ohne Isolation erleben.
(Satzung des Türkischen Kulturzentrums e.V. Fassung von 1989)
Daß diese klare Positionierung als Migranten-Verein auch bei den „Rebellen“ nicht völlig selbstverständlich gewesen war, zeigen anfängliche Auseinandersetzungen sowohl um Satzung als auch Namen.[49] Einer der Wortführer der Çelebi-Anhänger in Hannover war der Reiseunternehmer Celal Mermertaş, der zuvor schon bei Hür Türk und dem Verein türkischer Arbeitnehmer aktiv gewesen war. Mermertaş repräsentierte bereits eine andere, etwas jüngere Generation als Mehmet Genç, doch es sollte noch einige Zeit dauern, bis sich in diesem Verein ein vollständiger Generationenwechsel in der Führung vollzog. Dazu gehörte auch der Kauf des zukünftigen Moscheegebäudes in der Fössestraße, was aber bereits in die 90er Jahre fällt.
Daß sich entsprechende Konflikte um Türkeiorientierung oder Ausrichtung auf Fragen der hiesigen Einwanderungsgesellschaft ebenso unter den Exillinken abspielten, läßt sich recht gut an zwei Vereinen zeigen, die 1988/89 gegründet wurden. Für die seit 1980 andauernde Fixierung auf das Geschehen in der Türkei steht dabei der 1989 entstandene „Verein zur Förderung der Informationen und Kenntnisse der Völker der Türkei e.V.“, dessen Satzung folgendes Hauptziel formuliert: Aufbereitung und Archivierung von Informationen aus allen Lebensbereichen der Türkischen Republik — womit nichts anderes gemeint war, als die Herausgabe der Zeitschrift „Devrimci İşçi“ (zu deutsch: Revolutionäre Arbeiter). Dahinter stand eine politische Organisation gleichen Namens.[50] Devrimci İşçi war vor dem Militärputsch von 1980 bloß die Europa-Organisation der großen marxistisch-leninistischen Gruppierung „Devrimci Yol“ (zu deutsch: Revolutionärer Weg) in der Türkei gewesen, nach 1980 jedoch mußte Devrimci İşçi die zerschlagene Dev Yol ersetzen. Zu ihrer Hochzeit konnte Devrimci İşçi allein in der BRD mehrere zehntausend Menschen bewegen, doch in der zweiten Hälfte der 80er Jahre ließ die Auseinandersetzung um die Frage der Türkeiorientierung die Organisation allmählich zerbröckeln.
„Es wurde auch die Frage diskutiert, was für Ziele die Organisation in der BRD verfolgen sollte: Sollte man sich weiterhin als Solidaritätsbewegung zur Türkei definieren oder brauchte man auch Positionen zu BRD-spezifischen Problemen? Letzteres bedeutete auch ein persönliche Umorientierung. Viele verstanden aber überhaupt nicht, was die Diskussion über das Leben in der Migration sollte. Viele haben sich verraten gefühlt und zogen sich ganz zurück.“
(Auszug aus einem Interview mit einem ehemaligen Devrimci İşçi-Kader)
Nach der Abspaltung der „Göçmen“-Fraktion im Jahre 1985 zog die weiterhin Türkei-orientierten Linie von Devrimci İşçi mit ihrer Zentrale von Köln nach Hannover in die Badenstedter Straße um. Zu diesem Zeitpunkt war der Mitgliederanhang immer noch so groß, daß man sich zehn hauptamtliche Mitarbeiter in der Zentrale leisten konnte. 1989 hingegen, bei der Gründung des oben genannten Vereins, der eigentlich nur eine juristische Person für die Herausgabe der Zeitung Devrimci İşçi abgeben sollte, war Devrimci İşçi als Organisation schon in die letzten Stadien des Zerfalls getreten. 1992 wurde die Selbstauflösung beschlossen, womit sowohl die Zeitung als auch der Verein in Hannover als ihr Träger hinfällig wurden.[51]
Der im Dezember 1988 gegründete Verein „Arkadaş e.V.“ steht für den anderen Pol in der Auseinandersetzung, was sich auch an dem Namenszusatz „Verein für eine multikulturelle Gesellschaft“ zeigt. Maßgeblich an der Formung des Vereins[52] beteiligt waren die Lehrerin Sevinç Ezbük und der Lehrer Şahabeddin Buz.[53] Allerdings war auch in diesem Fall die klare Positionierung als Verein, der sich um die Perspektiven der Einwanderungsgesellschaft BRD kümmert, keineswegs unumstritten, was sich wiederum in langen Streitigkeiten um den Vereinsnamen (samt mehrfacher Umbenennung) ausdrückte. Ursprünglich wurde der Verein mit dem Namen „Verein für kulturelle und soziale Gleichberechtigung der Menschen aus der Türkei“ beim Vereinsregister angemeldet, Mitte 1989 entschied man sich jedoch für eine Umbenennung in „Verein für eine multikulturelle Gesellschaft“, wobei zugleich aus §2 der Satzung der Satz „Die Aktivitäten des Vereins betreffen insbesondere die Menschen aus der Türkei“ gestrichen wurde. Im Frühjahr 1990 erfolgte eine neuerliche Umbenennung: Das türkische Wort „Arkadaş“ (zu deutsch: Freund) avancierte nun zum Hauptbestandteil des Vereinsnamens, wodurch wiederum eine besondere Orientierung auf die Türkischstämmigen in der Stadt zum Ausdruck kam. Der andauernde Schlingerkurs endete erst nach der Abspaltung jener Fraktion, die sich eher einer türkischen als einer multikulturellen Perspektive verpflichtet fühlte.[54]
1990 bezog Arkadaş eine zum Vereinslokal umgebaute Wohnung in der Goethestraße 23, wo auch eine Teestube betrieben wurde. Aufgrund der hervorragenden Vertrautheit der Vereinsaktivisten mit dem Institutionengeflecht in der Stadt gelang es Arkadaş als einem von ganz wenigen türkischen Verein in Hannover, ABM-Kräfte und BSHG-Stellen zu bekommen.[55] Dieser Umstand erklärt vielleicht, warum Arkadaş trotz eher geringer Mitgliederzahl — der Mitgliederstamm blieb immer unter 50 Personen — ein reges kulturelles Programm initiieren und z.B. auch recht regelmäßig eine Zeitung („Arkadaş. Zeitung für eine multikulturelle Gesellschaft“) in deutscher und türkischer Sprache herausbringen konnte.[56] 1995 erfolgte der Umzug in einer große Etage des Gebäudes Münzstraße 5, wo der Verein bis heute residiert.
Der letzte Verein, der 1989 in Hannover entstand, signalisiert eine weitere wichtige Veränderung in der türkischen Vereinsszene. Der „Türkische Erzieherbund in Niedersachsen e.V.“ trat nicht mehr mit dem Anspruch an, möglichst alle Türkischstämmigen vor Ort zu erfassen, sondern wollte gezielt nur eine bestimmte Statusgruppe organisieren. Anders als die 1963 gegründete Türk Talebe Cemiyeti, die noch stillschweigend alle Menschen aus der Türkei als Mitglieder ansah, und auch anders als der „Türkische Lehrerbund in Niedersachsen e.V.“ von 1981, der sich die „Pflege der türkischen Kultur“ zum Wohle türkischstämmiger SchülerInnen auf die Fahnen geschrieben hatte, definierte der Türkische Erzieherbund „die Vertretung der Rechte türkischer Lehrer in Niedersachsen“ als sein vorrangiges Ziel. Es zeichnete sich hier also bereits die Tendenz zur Bildung von special interest-Gruppen ab, der vermutlich — neben dem Coming-out der Aleviten — einen der wichtigsten Trends der 90er Jahre darstellt.
Bemerkenswert an der Entstehung des Türkischen Erzieherbundes ist, daß sich mit Şükret Taşkın, Yılmaz Güner und İsmail Umut drei der Gründungsmitglieder des älteren Türkischen Lehrerbundes unter den Gründer des neuen Bundes finden. Es liegt auf der Hand, daß hier ein Konflikt über die zukünftige Richtung der Arbeit zur Abspaltung geführt hatte. Dafür spricht auch, daß die beiden Vereine nach zwei Jahren separater Existenz 1991 wieder zusammengingen. Yılmaz Güner, der letzte Vorsitzende des Erzieherbundes, wurde nach der Vereinigung mit dem Lehrerbund zu dessen zweiten Vorsitzenden gewählt. Interessanterweise ergänzte der Lehrerbund in der Folge den Vereinszweck in der Satzung um folgendes Ziel: „Wahrung der beruflichen und sozialen Interessen der Mitglieder“.[57]
Die meiste Zeit seiner Existenz hatte der Verein keine eigenen Räume, die Vereins- versammlungen mußten bei der TGH, in Freizeitheimen oder Gewerkschaftseinrichtungen stattfinden. 1995 jedoch nahm der Verein das Angebot des türkischen Konsulats an und bezog ein (mietfreies) Büro im „Türkeihaus“ in der Vahrenwalder Straße 194. Dort ist er auch heute noch beheimatet.
Damit ist die Darstellung allerdings der Chronologie bereits wieder weit vorausgeeilt. Um die Diskussion der Entwicklungen der 80er Jahre abschließen zu können, fehlen jedoch noch wichtige Aspekte.
Erhöhte Aufmerksamkeit seitens der Alteingesessenen
Es ist kein Zufall, daß man seit der zweiten Hälfte der 80er Jahre regelmäßig zum Fastenmonat Ramadan in beiden Lokalzeitungen
Hannoversche Allgemeine Zeitung und Neue Presse auf größere Artikel über Moscheevereine stößt: Die deutsche
Öffentlichkeit begann sich allmählich — wenn auch sehr zögerlich — daran zu gewöhnen, daß ein nicht unbeträchtlicher Teil der
dauerhaften Bevölkerung Hannovers muslimisch war und blieb. War Anfang der 80er Jahre die Zeitungsdarstellung des Ramadan
in Hannover bestenfalls ambivalent[58] — der „Koranschul-Konflikt“ schwelte
noch immer —, präsentierte man der Leserschaft nun vorwiegend gastfreundliche, sympathische und stolze Vertreter des Islams,
zumeist türkischer Herkunft.[59]
Es gab aber auch sehr unerfreuliche Ereignisse, die das Augenmerk der (Presse-)Öffentlichkeit auf die deutsch-türkische Minderheit in der Stadt lenkten. In der zweiten Hälfte des Jahres 1988 häuften sich Konflikte zwischen rechtsradikalen Skinheads und türkischstämmigen Jugendlichen im Innenstadtbereich. Die anfänglich einseitig von den Skinheads geschürten Konfrontationen — sie veranstalteten aus rassistischen Motiven Hetzjagden auf Jugendliche, die sie nach Haut- und Haarfarbe für Türken hielten — arteten in organisierte Straßenschlachten aus: Auch die angegriffenen türkischstämmigen Jugendlichen taten sich in Gangs zusammen und vereinbarten teilweise mit der Gegenseite Termine für nächtliche Straßenschlachten. Nach einer vorübergehenden Beruhigung der Szene flammten die Konflikte im nächsten Jahr mit gleicher Heftigkeit wieder auf.[60]
Von der Brutalität der Auseinandersetzungen aufgeschreckt, versuchten Menschen sowohl aus Migrantenvereinen, wie auch aus professionell mit Jugendlichen befaßten Institutionen, aus den Kirchen und der Kommunalpolitik, ein „Komitee gegen Rassismus und Ausländerfeindlichkeit“ zu gründen, um das Problem bei der rassistischen Wurzel zu packen.[61] Eine der InitiatorInnen, Elçin Kürşat, sagt im Rückblick:
„Das sollte kein Verein werden, sondern ein periodisches Zusammentreffen aller relevanten Institutionen. Ich persönlich hatte damals einen Aufruf an 60-70 deutsche und türkische Organisationen gerichtet. Die erste Versammlung war im Freizeitheim Linden und die Mehrzahl der eingeladenen Gruppen kam auch. Doch das Ganze entwickelte sich zu einem Desaster. [...] Eine bestimmte türkische Splittergruppe wollte eine unserer Sitzungen von vorn herein zum Platzen bringen und einer meiner ehemaligen Kollegen aus der Türkischen Gemeinde griff sie an. Es flogen sogar Tassen durch die Luft. Das muß ein befremdlicher Anblick für die anwesenden Deutschen aus der SPD usw. gewesen sein!“
(Auszug aus dem Interview mit Elçin Kürşat)
Nach dem Scheitern des Versuchs, ein breites Bündnis zu gründen, dessen Grundlage die gemeinsame Betroffenheit aller MigrantInnen durch Rassismus hatte sein sollen, entstand stattdessen ein Antidiskriminierungszentrum als eingetragener Verein mit festen Mitarbeitern auf ABM-Basis.[62] Das Antidiskriminierungszentrum e.V. hatte seinen Sitz zusammen mit Arkadaş e.V. in der Goethestraße 23. Auch wenn ihm keine lange Lebensdauer beschieden war, trug diese Initiative dazu bei, das Bewußtsein breiterer Öffentlichkeitskreise in Hannover dafür zu schärfen, daß diese Stadt auch durch Einwanderung geprägt ist. Nicht zuletzt kam man es zumindest zum Teil der Arbeit des Antidiskriminierungszentrums anrechnen, daß der 1990 wieder ins Leben gerufene Ausländerbeirat — selbst ein Resultat der Ende der 80er Jahre in Gang gesetzten Diskussionsprozesse — 1993 den Rat der Stadt Hannover aufforderte, eine kommunale Antidiskriminierungsstelle einzurichten.[63]
Ein Indiz dafür, daß die Stadt auch von sich aus im Begriff war, ihre Haltung zu den Einwandererminderheiten zu ändern, ist die Tatsache, daß Ende 1989 auf dem Friedhof Stöcken ein Gräberfeld für muslimische Bestattungen eingerichtet wurde.[64] Die Vorgeschichte dieser sinnvollen Einrichtung ist allerdings bezeichnend. In einem Informationsblatt der städtischen Friedhofsverwaltung heißt es dazu:
„Schon Mitte der achtziger Jahre wurde in Hannover der Ruf nach einem muslimischen Friedhof laut. Man rechnete damals mit 60-80 Beisetzungen im Jahr. Seit dem 18.12.1989 können Muslime auf dem Stadtfriedhof Stöcken in einem eigens für diese Glaubensgemeinschaft eingerichteten Gräberfeld beigesetzt werden. [...] Die muslimische Abteilung ist etwa 7.300 qm groß und bietet Platz für 310 Erbwahlgräber und 750 Reihengräber. Bis heute sind 105 Reihengräber und 6 Wahlgräber belegt. Hinzu kommt noch eine Vielzahl von anonymen Zwischengräbern für Totgeburten. Das heißt, daß entgegen der ursprünglichen angenommenen Zahl nur 15-20 Beisetzungen jährlich stattfinden.“[65]
Auf das muslimische Gräberfeld auf dem Stöckener Friedhof angesprochen, gaben sämtliche Moscheevereine zu Protokoll, daß ihnen keine einzige Bestattung — weder von Mitgliedern ihrer Vereine, noch von sonst jemandem — dort bekannt sei. Tatsächlich erweist ein Rundgang auf dem muslimischen Gräberfeld und ein Blick auf die Grabinschriften, daß praktisch nur Muslime mit arabischen oder persischen Namen in Stöcken begraben liegen. Das heißt, die türkischstämmigen Muslime — und damit die große Mehrheit aller Muslime der Stadt — nehmen das Angebot auf eine islamische Bestattung in Hannover nicht an. Angesichts des zumindest von der Generation der PioniermigrantInnen aus der Türkei mit überwältigender Mehrheit gehegten Wunsches nach Bestattung am Geburtsort kann das nicht überraschen.[66]
Hätte die Stadtverwaltung Mitte der 80er Jahre das direkte Gespräch mit den Moscheevereinen gesucht, wäre man sicherlich zu einer anderen Bedarfsprognose gekommen. Tatsächlich verließ man sich ausgerechnet auf die Ratschläge einiger weniger Vertretern des Islamischen Zentrums — ein Verein, der sich 1984 praktisch aufgelöst hatte, aber mit dem zum Islam konvertierten Hannoveraner Abdullah Hügel[67] einen Sprecher hatte, der erstens das Gespräch mit den Behörden suchte und zweitens sich auch wesentlich besser verständlich machen konnte als die meisten Vorstände der anderen islamischen Vereine. Weiterhin trat mit Prof. Dipl.-Ing. Farouk Hammad[68] ein weiterer illustrer Vertreter des — um 1988/89 bereits völlig fiktiven — Islamischen Zentrums auf. Er konnte die Friedhofsverwaltung zwar sachverständig bei der Anlage eines islamischen Gräberfeldes beraten, aber wohl kaum die Interessen der großen organisierten muslimischen Gruppen der Stadt artikulierte. So lief diese gut gemeinte Bemühung letztlich am tatsächlichen Bedarf vorbei.
Um solche Fälle klarer Fehlkommunikation zwischen Einwandererminderheiten und den Organen der Mehrheitsgesellschaft (hier: die Kommune) zu vermeiden, hatte die Grün-Alternative Bürgerliste (GABl) im Stadtrat von Hannover bereits 1987 einen Antrag zur Wiederbelebung des 1980 abgeschafften Ausländerbeirats eingebracht. Da mangels Kommunalwahlrecht eine direkte Einflußnahme auf die politischen Geschicke in der Stadt unmöglich war, sollte wenigstens ein beratendes Gremium für die Belange der MigrantInnen demokratisch gewählt werden. Diese Initiative führte allerdings erst 1990 zum Erfolg.
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Inhaltsverzeichnis
Hinweis des Autors
Der vorliegende Text wurde 1999 als Abschlussbericht des Projekts „Gemeindestrukturbildung und ethnisches/religiöses
Protestpotential bei türkischstämmigen Migrantinnen und Migranten in Niedersachsen“ an die Förderinstitution fertigestellt
und seither nicht publiziert. Die hier vorliegende Onlinefassung von 2020 stellt somit die Erstveröffentlichung dar.
Das Copyright liegt beim Autor.
Fußnoten