Max sein SciFi-Blog
Persönliche Anmerkungen zu Science Fiction, so ungefähr
An dieser Stelle führe ich ein Logbuch über SF-Romane, die ich gelesen habe. Punkt. Mehr passiert hier nicht. Es kann auch vorkommen, dass ich retrospektiv früher einmal gelesene Bücher noch einmal hervorkrame. Aktualität ist kein Muss. Eines nur vorweg: Ich verabscheue Perry Rhodan! Auch wenn ich – getreu der Devise: „Die größten Kritiker der Elche waren früher selber welche.“ – zugeben muss, als 14-Jähriger weit über hundert Rhodan-Heftchen gelesen zu haben. Bis ich dahinter kam, was Faschismus ist.
Hinweis am Rande:
Anregendes aus dem Netz: Ein sehr sympathischer Blog fantastischeantike.de und ein ganz gradliniger SF-Podcast schriftsonar.de. Der eigentlich wunderbar wuseliger Blog krearchiv.de wird seit 2019 nicht mehr gepflegt.
Übersicht
Diese Besprechungen oder Anmerkungen haben sich bislang angesammelt. Man kann sie chronologisch
lesen oder mit Klick auf das entsprechende Cover direkt zum gewünschten Buch springen.
Der erste Satz (und ausnahmsweise
auch der dritte)
„Zu denken, jedoch nicht Sprache. Nicht Sprache zu denken. Wir zu denken, ohne einen Zungenlaut oder
Ruf für seine kristalline Tiefe zu haben.“
2023-05-27
Man sollte es nicht glauben: Hier ist ein Band 2, der wirklich besser ist als der schon ziemlich lesenswerte
Band 1! Das ist eine absolut bemerkenswerte Leistung, allein dafür hat Martine sich vier Sterne verdient. Dabei
führt sie die Handlung von Im Herzen des Imperiums eigentlich nur linear weiter,
auch wenn sie zwei frühere Nebenfiguren – die Flottenkommandantin Acht Hibiskus und den kindlichen imperialen
Erben Acht Gegengift – zu neuen Hauptfiguren entfaltet. So dauert es geschlagene 164 Seiten, bis Mahit und ihre
geliebte Drei Seegras sich endlich wiederbegegnen und ihren diffizilen Tanz miteinander erneut aufnehmen
können, aber während dieser langen Exposition kann die Autorin die Konfrontation des Imperiums mit einer
unbekannten Alien-Zivilisation hinlänglich entfalten. Einer Zivilisation, die allem Anschein nach technologisch
überlegen, aggressiv und feindselig ist. Insbesondere wird aus der Perspektive von Acht Hibiskus die Erschütterung
geschildert, die der siegesgewohnte Apparat erfährt, angesichts seiner Unfähigkeit diesen Feind auch nur in
Ansätzen zu verstehen. Ausgerechnet Drei Seegras hat sich das Mandat ergaunert, diese Mauer des Nicht-Verstehens
zu durchbrechen, und schleift zur ihrer Unterstützung Mahit mit an die Front. Nicht der plausibelste Plot-Move,
aber wenn‘s denn nötig war, um das Funkensprühen zwischen den beiden total verschiedenen Liebenden zu reanimieren,
ist‘s mir recht. Und es bleibt noch genügend Zeit, um die spannenden Verstrickungen der Menage-à-trois in Mahits
Bewußtsein (Imago1, Imago2 und sie selbst) auszumalen. Manchmal stört es allerdings doch, dass Martine den
technischen Aspekten kaum Beachtung schenkt. So wird in dem Roman behauptet, es seien keine künstlichen
Persönlichkeiten, die dort im Hinterkopf der Trägerin ein Eigenleben hätten, sondern nur abrufbare Erinnerungen.
Sie sollen nicht „wirklich“ leben, aber faktisch lässt die Autorin sie handeln wie real lebendige Personen. Der
in ihrer Imago gespeicherte Vorgänger von Mahit übernimmt in verschiedenen Situationen die volle Kontrolle über
Mahits Körper, er geht mit ihrem Körper, spricht aus ihm, reagiert auf die aktuelle Umwelt. Wie gesagt:
eher ein Fantasy-Erzählmodell als ScienceFiction. Aber ehrlich: es macht keinen großen Unterschied. Martine
konzentriert sich eben ganz auf Beziehungen und die Ergründung aller Bedeutungsebenen der Kommunikation. Ganz
als wolle sie im Stile von Harold Garfinkels Ethnomethodologie jedes Quäntchen Kommunikation bis ins Letzte ausdeuten.
Wobei sie dann allerdings notwendig auf das Problem der Indexikalität von Sprache stößt. Sie lässt den elfjährigen
Palasterben Acht Gegengift sehr schön daran verzweifeln, dass die Indexikalität von Sprache unauflösbar ist.
Aber eigentlich geht es um Hegemonie und Dominanz. Genauer: darum was eine absolut dominante Kultur
den unterworfenen, abhängigen Kulturen und den Individuen darin antut. Das buchstabiert Martine an der
Liebesbeziehung von Mahit und Drei Seegras aus. Drei Seegras ist in voller Liebe zu Mahit entflammt und merkt
nicht, dass ihre privilegierte Statusposition ihre Liebe für Mahit korrumpiert, vergiftet und vergällt. Mahit
wiederum verheddert sich immer wieder in ihrer eigenen Faszination für diese enorme imperiale Kultur der
poetischen Sprachverfeinerung. Sie denkt selbst in der imperialen Sprache und geisselt sich gleichzeitig dafür,
weil sie im Identitätsdenken so verfangen ist, dass ein Sprachwechsel ihr als Verrat an ihrer „eigenen“
Kultur erscheint. Höchst erfreulich, dass Martine Grautöne beherrscht und die als „barbarisch“ abgetane Kultur der
Stationsbewohner*innen nicht idealisiert. Auch dort haben Identitätsfanatiker*innen das Sagen, liquidieren
brachial alles, was sie als von der imperialen Kultur korrumpiert ansehen. Hybridität ist weder für das Imperium,
noch für die Station Lsel ein lebbares Konzept. Und doch wollen Mahit und Drei Seegras nicht von einander
lassen. Das hat Größe! Das Ende erinnert mich stark an den Schluss des Woody Allen Films Manhattan (1979),
nur mit verkehrten Rollen. Bei Allen bekommt der Midlife-Crisis-Neurotiker, der erst im letztmöglichen
Moment für die unmögliche Liebe kämpft, von der erfahrungshungrigen, viel jüngeren Heldin ein vages Versprechen
auf eine mögliche Zukunft – nachdem sie sich ausgetobt hat – und wird erst einmal verlassen. Hier kämpft
die unerfahrenere der beiden bis zur Selbstaufgabe für eine gemeinsame Zukunft und bekommt von ihrer
schmerzensreichen Geliebten nur ein Versprechen auf Briefe – und wird verlassen. Bittersüß und wunderbar!
Arkady Martine
Am Abgrund des Krieges
München 2022
macht Spaß zu lesen
© Heyne Verlag
Paperback (16 €)
666 Seiten
ISBN 978-3-453-31994-3
Der erste Satz (und der zweite)
„Jahre später würde Lenson Ornill über die Ironie nachgrübeln, dass es ein ganz bestimmtert Ausdruck war,
der Anfang und Ende seiner Zeit als religiöser Mensch bezeichnete. »Ach du Scheiße«, sagte Gonre Ornill
zu ihrem Ehemann Tans auf der Brücke ihres Raumschiffs, der We Never Agreed to This.“
2023-05-11
Wer sich bei vollem Bewußtsein darauf einlässt, den zweiten Teil einer SF-Trilogie zu lesen, sollte sich
nicht darüber beschweren, dass „nichts zu Ende erzählt werden darf, da ja noch Teil 3 kommen muss“ (ich zitiere
mich selbst). In diesem Fall beschwere ich mich aber doch, denn hier wird ja doch was zu Ende erzählt, nämlich
der titelgebende „Verrat“. Aber dieser Abschluss ist so flach, dass ich ernsthaft angeödet war. Nachdem Scalzi
mit einiger Lust am Fabulieren ausgemalt hat, wie ein ganzes Netzwerk von Putschist*innen sich wechselseitig
betrügt, hintergeht und ermordet, weil sie alle selbst an die Stelle der wegzuputschenden Imperatox treten
wollen, zieht er am Ende einfach einen deus ex machina hervor, der die Imperatox allwissend macht, weshalb
sie alle Verschwörer*innen mit einem Streich ausschalten kann. Und sie hält eine lange, peinlich selbstherrliche
Rede, bevor sie zuschlägt. Erinnert irgendwie an ein B-Movie. Aber in einem B-Movie ist es immer der Bösewicht,
der sich mit der langen Rede genau solange aufhält, bis der entkräftet am Boden liegende Held sich sammeln und
den Schurken mit letzter Kraft vernichten kann. Hier ist es eine von den Guten, die Reden hält, statt abzudrücken
– und sie gewinnt trotzdem. Außerdem hatte ich schon den ganzen ersten Band über
auf eine anständige Romanze zwischen Main Character 1 und Main Character 2 gewartet und ja, die beiden haben Sex,
von dem wir Leser*innen allerdings nur das Nachgespräch im Bett mitbekommen. Auch das vermasselt Scalzi, denn
das höchst unromantische Liebegeflüster der beiden besteht darin, eine Geheimexpedition zu einem seit 800 Jahren
verlorenen Sonnensystem zu planen. Machen wir ja alle, nachdem wir endlich mit der Person unserer Träume ins Bett
gekommen sind… Aber ich habe den Roman von vorn bis hinten gelesen, Action kann Scalzi und ein bisschen Spannung
gibt es auch. Angeödet war ich erst auf den letzten Seiten – siehe oben. Also, man kann das Buch lesen, aber
genauso gut kann man die Plotzusammenfassung der englischen
Wikipedia lesen und gleich zum letzten Band übergehen.
John Scalzi
Verrat. Das Imperium der Ströme
Frankfurt am Main 2019
Kann man lesen
© Fischer Verlag
Paperback (15 €)
379 Seiten
ISBN 978-3-596-29980-5
Der erste Satz (und der zweite)
„»Das Bett ist frei«, sagte Moira, als sie ins Wohnzimmer kam. Der Wandscreen hämmerte irgendeinen Partysong und
zeigte zuckende Körper in Stroboskoplicht.“
2023-04-29
Es gibt nur 10 mögliche Storyplots – und die standen alle schon in der Bibel. Also werfe ich der Autorin nicht vor,
dass der „odd couple obsiegt gegen alle Wahrscheinlichkeit über einen skrupellosen Konzern“-Plot ziemlich abgedroschen
ist. Schließlich kommt es darauf an, wie das bekannte Muster variiert, ausgeschmückt und gekonnt erzählt wird. Ich
halte mich auch nicht damit auf, dass wolfsgroße Insekten biologisch höchst unwahrscheinlich sind, weil ihre
Tracheen-Atmung keinen Körper dieser Größe versorgen könnte. Stören tut mich aber schon das zwanghafte Denken in
Individuen, wo man es mit staatenbildenden Insekten zu tun hat. Dass ein einzelnes Insekt abseits seiner bio-chemisch
vorprogrammierten Verhaltenssteuerung „Freundschaft“ mit einem Menschenwesen schließen könnte, grenzt an ein
„Biene Maya“-Zerrbild. Höchst spannend ist hingegen die nur kurz angerissene Idee, dass geklonte Menschen eine Art
Eusozialität wie besagte staatenbildende Insekten entwickeln könnten und damit der allein durch Geld und
Marktmechanismen vermittelten Sozialität von konkurrenzgetriebenen Individuen überlegen sein könnten. Um diesem
Momentum Raum zu geben, hätte sich allerdings der männliche Protagonist (der Klon) gegen die Heldin und für die
Brüderhorde (seine Klon-Kohorte) entscheiden müssen. Allein, die Autorin vertraut lieber auf die gute alte Kleinfamilie.
Die Story kommt insgesamt mit praktisch nur fünf Figuren aus: die Heldin und ihr Klon-Partner, zwei Supporter*innen,
deren Beitrag und Figurenzeichnung aber marginal bleiben, und der Junior Konzern-Chef als das personifizierte Böse.
Letzerer entpuppt sich im Moment der Entscheidung als Schwächling, was praktischerweise die Held*innen der Entscheidung
enthebt, ob sie für die gerechte Sache zu Mörder*innen werden wollen. So weit, so konventionell. Der Gesellschaftsentwurf
ist einfach ein enthemmter Kapitalismus, inwieweit es auf dem Planeten Deuteragäa überhaupt eine Staatlichkeit gibt,
bleibt im Ungewissen. Alles und jede*r ist käuflich, nur ein paar Dropouts leben am Rande in Slums. Insgesamt
enttäuschend, aus der Klon-Thematik kann man deutlich mehr rausholen.
Esther S. Schmidt
Rho
Hamburg 2022
Kann man lesen, wenn nichts anderes da ist.
© Verlag Plan 9
Paperback (15 €)
322 Seiten
ISBN 978-3-948700-39-3
Der erste Satz (und der zweite)
„Zwei Dinge in Teixcalaan sind ständig in Bewegung: die Sternkarten und der Strom der Reisenden. Über dem
Taktikpult des Kriegsschiffs Rote Frucht des Aufstiegs, das derzeit fünf Sprungtore und zwei Wochen Unterlichtflug
vom Hauptstadtplaneten entfernt operiert und bald wenden und heimkehren soll, ist der gesamte teixcalaanische Weltraum
holografisch dargestellt.“
2023-04-23
Ein gut gemachter Schmöker, der an mehr als einer Stelle echten Tiefgang entfaltet. Ein allmächtiges Imperium und eine
unbedeutende Weltraumstation namens Lsel, die sich ihre randständige Unabhängigkeit bis jetzt irgendwie erhalten konnte
– eine unbehagliche Kohabitation. Weil Lsel nicht Opfer der nächsten imperialen Expansion sein will, kommt die Heldin Mahit
Dzmare zu ihrem ersten Job: Sie wird Botschafterin von Lsel in der gewaltigen Hauptstadt des Teixcalaanischen Imperiums.
Ihr Übergang ins Berufsleben ist zugleich ihre Initiation als Imago-Trägerin. Denn ihr geheimer Trumpf sind die Erinnerungen
ihres toten Vorgängers, die sie als abrufbares Imago im Kopf mit sich trägt. Sie ist also keineswegs die Anfängerin, für die
insbesondere die ihr zugeteilte imperiale Kulturmittlerin Drei Seegras sie hält. Bewußtseinserweiternde Technologien sind
allerdings im Imperium geächtet, Mahit muss also geheim halten, woher sie als Neuling ihr Insiderwissen hat. Doch als ihr
Imago crasht, taumelt die auf sich gestellte Botschafterin nur noch durch die immer bedrohlicheren Intrigen des imperialen
Hofes. Aber mit ihr taumelt ihre Kulturmittlerin und es ist kunstvoll gewebt, wie sich in den kurzen Atempausen des Tumults
eine feingeistige Liebschaft anbahnt. Martine verwendet insgesamt viel Energie auf den kulturellen Weltenbau, denn Poesie
ist hier gleichbedeutend mit Politik und die nur ein anderes Wort für Intrige, das ist neu und richtig gut. Der
Gesellschaftsentwurf hingegen ist vage, irgendeine Abart eines bürokratisch gelenkten Kapitalismus, Religion ist vorhanden,
aber genau wie Armut irrelevant. Irgendeine Untergrundbewegung verübt mörderische Anschläge – warum, aus welchem Antrieb,
alles unerklärt. Technik spielt bei Martine keine Rolle, sie tut ihren Dienst, aber wieso all die Wunderdinge überhaupt
funktionieren: egal. Es gibt Sprungtore, die unvorstellbare Entfernungen im All überbrücken. Ob sie natürlich oder erbaut
sind, kein Kommentar. Raumschiffe fliegen mit Unterlichtgeschwindigkeit zu den Sprungtoren, ob sie Sonnensegel benutzen
oder chemische Brennstoffe, ob sie mit Fusionsreaktoren angetrieben werden oder ob überhaupt irgendwas sie vorwärts
bewegt: kein Kommentar. Es gibt die Imago-Technologie zur Speicherung aller Gedanken und Emotionen. Das dafür notwendige
Gerät ist winzig, braucht scheinbar keine Energie, kann aber gleichzeitig die gesamte Lebenserinnerung eines Verstorbenen
zur Verfügung stellen und auch noch die neuen Erfahrungen der aktuellen Trägerin aufzeichnen. Wie das geht? Kein Kommentar.
Insoweit ist es eher ein Fantasy-Erzählmodell als ScienceFiction. Die Erzählform ist konventionell, meist folgt man
chronologisch dem Erleben Mahits, gelegentlich dem anderer Protagonist*innen. Jedes Kapitel beginnt mit einem
pseudo-dokumentarischen Intro, das häppchenweise den Weltentwurf weiter ausgeschmückt. Die Stärke des Romans entfaltet
sich in der detaillierten Introspektion der Akteur*innen, wobei fast alle wichtigen Figuren weiblich sind. Was aber
bemerkenswert unbedeutsam ist, denn Geschlecht spielt mal überhaupt keine Rolle! Wenn Rollenprägungen sichtbar werden,
dann sind sie durch die Positionierung der Person im Machtspiel bestimmt. Und es ist ein Buch, in dem Familie als
Kategorie völlig irrelevant ist. Schön ist auch die intensiv ausgelebte Ambivalenz der Botschafterin, die das alles
verschlingende Imperium fürchtet und seine Arroganz verachtet, aber die unendliche kulturelle Verfeinerung der teixcalaanischen
Gesellschaft bewundert und soooo gern ein kompetenter Teil davon wäre. Und sich dafür schämt. Auf der Strecke bleibt
allerdings die Körperlichkeit: Die Heldin Mahit scheint nur insoweit einen Körper zu haben, damit er bei Explosionen,
Attentaten und anderen Aggressionen leiden kann. Ich habe das Buch gleichwohl sehr gern gelesen, bin allen Schicksalswendungen
gespannt gefolgt und war erbost, als die Autorin am Ende die gerade frisch erblühte Romanze einfach wegzuwerfen scheint.
Aber da hatte ich die Logik der Mehrbändigkeit außer Acht gelassen: Man darf auf Band 2 hoffen!
Arkady Martine
Im Herzen des Imperiums
München 2019
gut zu lesen
© Heyne Verlag
Paperback (16 €)
586 Seiten
ISBN 978-3-453-31993-6
Der erste Satz (und der zweite)
„»Das Tor ist genau vor uns«, sagte Gregor. »Mach dich bereit.«“
2023-02-19
Die ersten 50 Seiten sind gestrickt wie ein Mission-Impossible-Drehbuch: Angriff auf die zentrale Datenbank
der Feinde – hier ein gegnerisches Handelshaus. Nach dem Erfolg bekommt die Heldin Sancia einen Vollrausch,
eine Weltschmerzkrise und einmal Sex mit ihrer Geliebten. Und das liest sich dann so: „»Denk jetzt nicht
mehr darüber nach«, sagte Berenice. »Ich kann nicht. Wie könnte ich auch?« Sancia blickte auf, als Berenice
näher an sie heranrückte. »Ah.« Sancia lächelte. »Ich verstehe.«“ Das war die vollständige und einzige
erotische Szene des Buches. Und kaum hat Sancia ihr einziges Vergnügen in diesem Roman gehabt, wird sie
mit der Ankündigung des dräuenden Weltuntergangs wieder auf eine traumatische Expedition gegen überstarke
Mächte geschickt. Den Rest des Buches kämpfen Sancia und ihre Freunde gegen das Superschurkenböse. Was
ja auch nur konsequent ist, denn wenn die Heldin erst einmal Superheldinnenqualität erreicht hat, hat sie
letztlich keine Gegner mehr. Dies wird mit der Leichtigkeit demonstriert, mit der Sancia die „unmögliche“
Mission der ersten Seiten erledigt. Selbst die größten Handelshäuser sind Sancia nicht mehr gewachsen.
Superman ist ohne General Zod oder Metallo arbeitslos. Ganz wie Batman ohne Ridler oder Sherlock Holmes
ohne Prof. Moriarty. Sancia braucht einen Gegner wie Crasedes Magnus, der ganze Kompagnien wie Fliegen an der
Wand zerklatschen lässt. Ihren Kampfgenossen Gregor aus Band 1 hingegen braucht
sie nicht mehr und so wird jener am Ende dieses Band 2 in etwas anderes verwandelt, etwas, das im Grunde nicht
weniger schlimm ist als Crasedes Magnus. Damit ist der Endgegner für Band 3 angekündigt und gesetzt. Wie es die
Logik von Roman-Serien erfordert, wird am Ende von Band 2 nichts aufgelöst oder beendet. Das Geheimnis um den
titelgebenden magischen Schlüssel wird zwar gelüftet, aber recht eigentlich spielt auch er nur noch eine Nebenrolle.
Und wenn am Ende Sancia mit ihrer Geliebten verschmilzt, dann liegt das nicht an der übergroßen Liebe
zwischen den beiden. Man könnte überhaupt auf den Gedanken kommen, dass Körper in diesem Roman nur
existieren, um Schmerzen empfinden zu können. Die einzige Handlung, die irgendwas mit Körperlichkeit jenseits
von Kampf und Leid zu tun hat, ist die ausgerechnet die Erniedrigung einer Magd durch den sadistischen Chef
des Handelshauses Michiel, der dafür allerdings auch gleich per Magie zur Selbstverstümmelung und zum Selbstmord
genötigt wird. Insgesamt ein routiniert gemachtes Werk, insbesondere gibt es viel und gekonnt ausbuchstabierte
Aktion. Wurde etwa am Ende von Band 1 ein Gebäude so groß wie ein Berg zum Einsturz gebracht, wird hier
in Band 2 gleich eine ganze Stadt abgeräumt. In Band 3 werden sie demnach vermutlich einen Kontinent versenken
müssen. Aber ich werde nicht mehr dabei sein – die Story hat ihren Charme und die ungewöhnliche Heldin
einfach verbraucht.
Robert Jackson Bennett
Der Schlüssel der Magie: Der Meister
München 2020
kann man lesen
© Blanvalet Verlag
Paperback (15 €)
572 Seiten
ISBN 978-3-7341-6267-1
Der erste Satz (und der zweite)
„Ich heiße Melisande Stokes, und das ist meine Geschichte. Ich schreibe sie im Juli 1851 (christlicher Zeitrechnung
oder – machen wir uns nichts vor – Anno Domini) im Gastzimmer eines bürgerlichen Hauses in Kensington, London, England.“
2022-08-23
Ich liebe Zeitreisen! Seitdem ich irgendwann in den frühen 70ern „The Time Machine“ (die Verfilmung von 1960) in
verrauschtem Schwarz-Weiß auf Nederland 2-TV mit englischem O-Ton und holländischen Untertiteln gesehen habe, bin
ich fasziniert von der Idee des Zeitreisens. Und nun ein Zeitreisen-Roman von Neal Stephenson, immerhin Autor von
zwei Büchern, die ich richtig, richtig gut finde (Snow Crash und Anathem), da nehme ich auch
billigend in Kauf, dass es vordergründig um Magie geht, genau gesagt um das Verschwinden der Magie aus der Welt.
Allerdings liegt der Klappentext komplett falsch, wenn er behauptet: „D.O.D.O., eine Geheimorganisation der
amerikanischen Regierung, hat sich zum Ziel gesetzt, mittels Zeitreisen die Magie in unsere Welt zurückzuholen.“
Tatsächlich will D.O.D.O. genau das Gegenteil: Die Magie wiederherstellen, um Zeitreisen ausführen zu können.
Denn D.O.D.O. steht für Department of Diachronic
Operations – also Abteilung für Zeitreisen. Und es ist nicht irgendeine Regierungsorganisation,
sondern eine Abteilung des Militärs. Ziel des Ganzen ist also nicht Verbesserung der Kenntnisse über die Geschichte
(oder das Rätsel der Ermordung Kennedys zu lösen), sondern es geht um Manipulationen an der Geschichte, um in der
Gegenwart günstige Verhältnisse für die Interessen der USA sicherzustellen. Insoweit ist es auch die Geschichte
des Aufbaus einer neuen Truppengattung und am Ende auch eines bürokratischen Apparats. Das ist der schwächste
Teil des Romans, weil das dauerhafte Lächerlichmachen von Detailaspekten einer Verwaltung (Abkürzungsfimmel,
Dienstanweisungen für alles und jedes, zwanghafte Verschriftlichung aller Vorgänge) nur ganz selten witzig
ist, zumal der Autor dabei überdeutlich sein eigenes Unbehagen am Vordringen des Diversity-Gedankens in alle
Lebensbereiche zur Schau stellt. (Vielleicht bin ich aber auch nur überempfindlich, weil ich selbst in einer
Verwaltung arbeite…) Das Zeitreisen selbst wird verknüpft mit der Paralleluniversen-Theorie, was ganz originelle Folgen
für die Handlung hat, weil eine Manipulation an der Vergangenheit keineswegs zwingend im eigenen Universum zu einer
Veränderung führen muss. Das Militär antwortet auf diese Herausforderung mit ganz eigner Logik: Mehr Feuerkraft hilft
immer! Man ändert dieselbe Episode eben einfach gleich in Dutzenden Paralleluniversen. Das ist wirklich originell und
wird auch schön repetitiv erzählt. Unglücklicherweise verliert der Roman irgendwo in der Mitte des schier endlos
langen Buchs für mehr als hundert Seiten seinen Fokus. Unter anderem kommt die eigentlich hübsche Liebesgeschichte
komplett abhanden, bei der es auf den ersten 300 Seiten immer darum ging, wann es endlich auch die beiden Betroffenen
selbst merken, dass sie längst ein Liebespaar sind. Immerhin nimmt der Plot wieder ordentlich Fahrt auf, als plötzlich
nicht nur das US-Militär und die Fugger (ganz recht, die Fugger aus Augsburg) Zeitreisen via Magie beherrschen, sondern
noch zwei ganz andere Fraktionen mitmischen, die vorher niemand auf dem Schirm hatte. Und selbst die Liebesgeschichte
wird irgendwann kurz vor Ende wieder hervorgeholt, allerdings interessiert es dann kaum noch, ob die beiden sich endlich
küssen. Alles in allem hätte dem Buch eine rigide Lektorin gut getan, die gut ein Drittel rauskürzt. Aber was soll‘s:
Selbst ein schwächerer Stephenson ist immer noch prima Unterhaltung!
My apologies to co-author Nicole Galland! Welchen Einfluss sie auf den Roman hat, vermag ich nicht zu sagen, für mich liest es sich nicht anders als alle anderen Stephenson-Romane.
Neal Stephenson /
Nicole Galland
Der Aufstieg und Fall
des D.O.D.O.
München 2018
größtenteils gut zu lesen
© Goldmann Verlag
Paperback (15 €)
847 Seiten
ISBN 978-3-442-48964-0
Der erste Satz (und der zweite)
„Die Leiche treibt auf dem Strom. Wo die neue Brücke den Gange in fünf Betonschritten überquert, sammeln
sich Girlanden aus Zweigen und Plastik an den Pfeilern, Flöße aus Treibgut.“
2022-04-10
Geradezu widerwillig gestehe ich ein, dass das Buch ziemlich gut ist. Eigentlich hatte ich nach 400 Seiten die Lust verloren
und schon einen Verriss geschrieben. Aber am Ende hat es mich gepackt und die letzten 200 Seiten habe ich in einem
Stück verschlungen – auch wenn ich gestehen muss, dass ich immer wieder Absätze und halben Seiten übersprungen haben.
Denn irgendwie ist das Buch in jeder Hinsicht zu viel: zu viel Seiten, zu viele Akteur*innen, zu viele Nebengeschichten,
zu viele Grausamkeiten, zu viel Sex, zu viel Wortschwall. Aber es zieht einen mit und die Geschichte ist wild genug,
um aufzufallen im Einerlei der ScienceFiction. Vom Clash zwischen Menschen und Maschinen (hier: Kaih) hat man schon
oft gelesen. Bei McDonald bekommt dieser bekannte Plot einen spannenden neuen Twist: Die Konkurrenz ist ganz einseitig,
nur die Menschen, nicht die Kaihs haben ein Problem. Die Andersartigkeit des digitalen Bewußtseins wird hier ernst
genommen und nicht auf die Abwesenheit von Gefühlen reduziert. Held*innen gibt es kaum, der Autor geht mit seinen
Figuren eher verschwenderisch um, die meisten sind am Ende tot oder seelisch zerstört. Ein Happy End gibt es nur für
zwei Figuren, eine Frau und ein „Neut“, ein künstlich geschaffenes Drittes ohne Geschlecht. Dieser Neuts sind auch so
eine interessante Idee, z.B. holen sie sich ihre Befriedigung direkt aus dem Gehirn ohne den Umweg über Sex. Leider
wird die Idee des Jenseits der Bipolarität nur behauptet, aber kaum gefüllt. Denn, auch wenn sie zwar recht oft in
der Handlung mitspielen, könnte man die Neuts doch ohne Verlust durch Transmenschen, Lesben/Schwule oder jede andere diskriminierte
Minderheit ersetzen. Ein größeres Problem hatte ich mit der Geschwätzigkeit des Schreibstils. Ein Beispielsatz: „Im
Herzen des Ganzen nistet der Chhatrapati Shivaji Terminus, ein Bezoar der viktorianischen Übersteigerung und Arroganz,
nun vollständig überkuppelt mit Einkaufsvierteln und Geschäftsniederlassungen, wie eine Kröte, die von einer Kalksteinknolle
umschlossen wird.“ Das wirkt auf mich überspannt und protzig, vor allem aber ist es ohne Belang für die Geschichte.
Es ist halt ein Bahnhof, in dem zwei Protagonisten in einen Zug steigen. Ob sie das in einer Kröte, die von einer
Kalksteinknolle umgeben ist, tun oder in einem Bahnhof voller Menschen auf der Durchreise, ist für die Geschichte
unerheblich. Oder dieser Satz: „Goldene Menschen drehen sich, um zu schauen, ihre Kunda Khadars wie kleine Morde
in den Händen.“ Während ich noch darüber nachsinne, wie man einen Cocktail namens Kunda Khadar halten muss, damit
er wie ein kleiner Mord wirkt, ist der Autor längst wo anders. Denn weder die Leute in ihrer Goldenheit, noch ihre
Getränke spielen in der Handlung eine Rolle. Aber es soll wohl ein Gefühl der Meisterlichkeit erzeugt werden, mit der
der Autor die Worte zu Sätzen voller Magie zu verdichten vermag. Allerdings ist es overdone, zu viel, zu synthetisch,
zu gewollt. Gleichzeitig füttert der Autor einen mit einer Unmenge von Details, die aber die Geschichte nicht greifbarer
machen. An etlichen Stellen rudert man als Leser*in verloren in dem Wortgeklingel, ohne Klarheit über die Basics
der Handlung gewinnen zu können. Basics heißt: Wer schießt hier gerade warum auf wen? Wenn dann auch noch der
Erzählfluss immer so dicht an der jeweiligen Hauptfigur des Kapitels klebt, als wäre man in einem Film ausschließlich
in close ups unterwegs, verliert man mehr als einmal den Faden. Aber ich kann soviel nörgeln, wie ich will: Dieses
Buch trommelt einen gewaltigen und lauten Beat, es lässt einen gewiss nicht kalt. Die Ideen, die darin stecken,
hätten locker für zwei Bücher gereicht, was vielleicht erklärt, warum nicht alles wirklich ausgeschöpft werden konnte.
Und wäre McDonald ohne die fiesen gewaltgeilen Szenen ausgekommen (Tötungen, Kriegsgemetzel, Folter) und wären seine
sexuellen Darstellungen etwas weniger effekthascherisch angelegt, hätte ich noch mehr Sterne vergeben wollen.
weiter zu den älteren Einträgen
Ian McDonald
Cyberabad
München 2012
gut zu lesen
© Heyne Verlag
Paperback (11 €)
786 Seiten
ISBN 978-3-453-52973-1