Abschlussbericht Projekt Koloniebildung (1999)
Zu Beginn der 70er Jahre konnte man die Zahl der Organisationen und Orte in Hannover, die von MigrantInnen aus der Türkei betrieben wurden, an wenigen Fingern abzählen. Es gab den Türkischen Arbeitnehmerverein mit seiner Begegnungsstätte im Büssingweg 4, den Gebetsraumverein in der Körnerstraße und den vor sich hindümpelnden Türkischen Studentenverein (TTC). Letzterer war aufgrund der sinkenden Studierendenzahlen eine zu vernachlässigende Größe geworden — die Tage, da die „Türkischen Nächte“ des Türk Talebe Cemiyeti in der hannoverschen Tagespresse mit größeren Berichten samt Foto erschienen, waren längst vergessen. Offiziell wurde der TTC erst 1983 aus den Annalen der Universität gelöscht, doch während des letzten Jahrzehnts seiner Existenz spielte er selbst im universitären Raum kaum noch eine Rolle.[1]
Ansonsten gab es eine Handvoll Reisebüros bzw. Export/Import-Läden (die Übergänge waren fließend), ein türkisches Restaurant („Bosporus“), das keinen guten Leumund hatte, sowie ein knappes Dutzend Änderungsschneidereien. Letztere richteten ihr Dienstleistungsangebot allerdings — der Marktlage folgend — vornehmlich an die Mitglieder der Mehrheitsgesellschaft, waren insofern also — anders als die türkischen Lebensmittelläden, die in den 80er Jahren aufblühten — kaum Ort der Begegnung zwischen MigrantInnen. Selbst wenn man die von der AWO betriebene Beratungsstelle Türk Danış hinzuzählt, war die Ausbildung fester Strukturen unter den MigrantInnen aus der Türkei in Hannover trotz der nunmehr erreichten zahlenmäßigen Größe der Gruppe (knapp 5.000, siehe Tabelle 3) schwach. Und die Entwicklung bis 1973 muß damaligen Betrachtern eher ein Bild der Stagnation, wenn nicht gar des Zerfalls geboten haben. Dies gilt insbesondere für den Verein türkischer Arbeitnehmer, der sich in einem jahrelangen internen Machtkampf mit Wahlfälschungsvorwürfen, annullierten Vorstandswahlen, einem gerichtlich eingesetzten Notvorsitzenden u.ä. selbst zerfleischte. Die oben schon angesprochene Schließung der Begegnungsstätte durch die AWO bedeutete da nur noch den Schlußpunkt.
Im Rückblick wird allerdings deutlich, daß der Niedergang des Arbeitnehmervereins auch objektive Gründe hatte, die zu bewältigen auch einem arbeitsfähigen Vorstand wohl kaum gelungen wäre. Innerhalb von nur drei Jahren (1970-1973) verdoppelte sich die türkischstämmige Population in Hannover auf über 10.000 Personen, gleichzeitig veränderte sich ihre Zusammensetzung rasch. Nicht mehr der alleinstehende, männliche Mittzwanziger mit Schlafplatz in einem Arbeiterwohnheim bestimmte das Bild, sondern komplette Kernfamilien mit heranwachsenden Kindern, die vorwiegend in Altbauquartieren mit Niedrigststandard und -miete wohnten.[2] Darauf, deren Probleme aufzufangen, war der Arbeitnehmerverein in keinerweise vorbereitet. Hinzu kam, daß nach dem Militärputsch von 1971 die Parteien der extremen Rechten in der Türkei, allen voran die Milliyetçi Hareket Partısı („Partei der Nationalen Bewegung“), die europäische Diaspora als zusätzliches Aktionsfeld entdeckten und damit begannen, besondere Kader dorthin zu entsenden. Auch die Bundesrepublik erlebte einen Zustrom von gut organisierten, politisch rechtsextrem bis faschistisch orientierten Parteifunktionären, die ihre Arbeit im neuen Umfeld zielstrebig angingen. In diesem Lichte ist auch das Ringen um den Vorsitz im Arbeitnehmerverein zu sehen. Eine der beiden Streitparteien kann eindeutig der Linie der Milliyetçi Hareket Partısı (MHP) zugeordnet werden, deren Anhänger später unter der Bezeichnung „Graue Wölfe“ wegen ihrer rassistischen und gewalttätigen Aktivitäten traurige Berühmheit in der bundesdeutschen Öffentlichkeit erlangten.
„Ja, das war eine gefährliche Zeit. Die ‚Grauen Wölfe‘ kamen, wichtige Politiker aus der Türkei kamen und haben Propaganda gemacht. Das war eine ganz gefährliche Zeit. Die ‚Grauen Wölfe‘ waren tatsächlich sehr stark in der Zeit und wir hatten auch Angst, das können Sie mir glauben!“
(Auszug aus dem Expertengespräch mit Arif Aydoğdu)
Eine Führungsrolle im Milieu der Grauen Wölfe spielte der Werksdolmetscher und spätere Reisekaufmann Mehmet Genç. Bis 1971 tauchte sein Name — soweit bis jetzt bekannt — in der Öffentlichkeit nicht auf. Danach jedoch erscheint er plötzlich an vielen, herausgehobenen Positionen.
Das niedersächsische Sozialministerium gründete beispielsweise per Dekret im Frühjahr 1971 eine „Landesarbeitsgemeinschaft Probleme der Betreuung von ausländischen Arbeitnehmern“. Darin saßen Vertreter der Gewerkschaften, der Arbeitgeberverbände, der Wohlfahrtsverbände, der Kommunen sowie fünf ausländische Vertreter, die die ArbeitsmigrantInnen aus den fünf Anwerbestaaten repräsentieren sollten. Als Vertreter der Türken war Mehmet Genç in den Kreis geladen worden.[3] Zwar entfaltete dieses Gremium kaum Tätigkeit, doch zeigt die Einbeziehung Gençs, daß er von Anfang an über gute Kontakte verfügte.[4] Genç war es auch gewesen, der die oppositionelle Gruppe bei den Kämpfen innerhalb des Arbeitnehmervereins anführte. Nachdem er 1974 vom Amtsgericht Hannover (zusammen mit einer weiteren Person) als Notvorstand berufen wurde, baute Genç den zu diesem Zeitpunkt nur noch als eine formale Hülle existenten Arbeitnehmerverein binnen kurzem wieder auf — allerdings nunmehr als eine Tarnorganisation der Grauen Wölfe: Die Wiedergründungsversammlung des Arbeitsnehmervereins im August 1974 wurde von denselben Personen durchgeführt, die einen Monat zuvor den „Verein türkischer Idealisten in Hannover und Umgebung“, also die eigentlich Parteizelle der Grauen Wölfe gegründet hatten. Eine ähnliche Übernahme von innen heraus erlebte auch der Gebetsraum-Verein in der Körnerstraße: 1974 wurde Mehmet Genç in den Vorstand des Vereins gewählt und plötzlich verdreifachte sich die Mitgliederzahl von 90 auf 280 Personen.[5] Von da ab lief alle Korrespondenz mit städtischen Behörden über Gençs Schreibtisch. Es sollte ziemlich lange dauern, bis die Stadtverwaltung realisierte, welche politische Tendenz hinter diesen Veränderungen steckte.[6] Dies greift allerdings der Entwicklung voraus.
Bis hierhin bleibt also zusammenzufassen, daß die bis 1973 bereits bestehenden Selbsthilfe- und Selbstorganisationsstrukturen den dramatischen Veränderungen innerhalb der türkischstämmigen Einwanderungsgruppe nicht gewachsen waren. Mitte 1973 wurde mit der Schließung der „Begegnungsstätte“ im Büssingweg sogar der einzige allgemein zugängliche Treffpunkt aufgegeben. Diese Schließung dürfte die bald darauf einsetzende Gründung mehrerer neuer Selbsthilfeeinrichtungen zusätzlich beschleunigt haben. Der Niedersächsische Staatsanzeiger vom 15. September 1973 verzeichnete in der Rubrik „Vereinsregister“ gleich drei neu eingetragene türkische Vereine: die „Türkische Gemeinde in Hannover und Umgebung“, den „Islamischen Verein der Türken in Hannover und Umgebung“ und die „Türkenselbstinitiative Hannover“. Mit diesem ‚Gründungsdreiklang‘ dokumentierte sich auf der Ebene der formalen Organisation, daß mit dem enormen quantitativen Zuwachs auch die Differenzierungen des politisch-sozialen Lebens in der Türkei endgültig in Hannover Einzug erhalten hatten. Die Türkische Gemeinde Hannover (TGH) repräsentierte dabei das gewerkschaftlich orientierte, gemäßigt linke, am ehesten „sozialdemokratisch“ zu nennende Milieu.[7] Die Türkenselbstinitiative verstand sich selbst ausdrücklich als „unpolitisch“, allerdings waren die hier betreuten Arbeiter eher der konservativen Richtung zugeneigt. Der Islamische Verein schließlich sammelte die Anhänger einer religiös-nationalen Linie, die alsbald ins Fahrwasser der ultrarechten Grauen Wölfe geraten sollten.
Die TGH trat als erste auf den Plan: Ihre Gründungsversammlung fand am 31. März 1973 statt. Der Ort der Veranstaltung, Schlorumpfsweg 6a, sagt bereits sehr viel über das Zustandekommen dieser Initiative aus, es handelt sich nämlich um ein Arbeiterwohnheim der VAW-Leichtmetall Werke. Allein 40 von den 61 Gründungsteilnehmern gaben ihren Wohnsitz in eben jenem Wohnheim an, die TGH war also zunächst eine firmenbezogene Gründung. Gleichwohl formulierte man sehr weitreichende Ziele in der Satzung:
„Die Gemeinde tut alles, was zur Einträchtigkeit der Mitglieder der Kolonie beiträgt und versucht, Streitigkeiten unter diesen friedlich beizulegen, und sorgt für die kulturelle Entwicklung der Kolonie, sowie für den Zusammenschluß aller Türken in ihren Reihen, unabhängig von deren Beruf, Bildung, Konfession, Weltanschauung, Anhängerschaft in einer politischen Partei oder beruflichen Organisation.“
(Art.II Abs.5 der Gründungssatzung)
Führender Kopf und Gründungsvorsitzender der TGH war Teoman Atalay, der offizielle Werksdolmetscher der VAW, sein Einfluß reichte aber weit über diese Position hinaus. Zum einen reiste Atalay in der Zeit vor dem Anwerbestop oft im Auftrag der VAW in die Türkei und warb dort — besonders in seiner eigenen Heimatregion İzmir — weitere Arbeitskräfte an. Für viele der späteren VAW-Mitarbeiter erwarb er den Status eines Patrons. Eine Zeitungsnotiz von 1970 kann das illustrieren: Als bei einem schweren Arbeitsunfall ein VAW-Arbeiter aus Tokat verstarb, organisierte Atalay — auch in seiner Funktion als Betriebsrat — eine Sammlung im Betrieb für die Familie des Verunglückten, brachte die Spende persönlich in die Osttürkei nach Tokat und vergaß auch nicht, die hannoverschen Presse darüber zu informieren.[8] Zum anderen engagierte sich Atalay gewerkschaftlich und konnte sich innerhalb des DGB profilieren, später wurde er auch prominentes Mitglied der hannoverschen SPD. Und zu guter Letzt entstanden auch verwandtschaftliche Kontakte zur Familie des damaligen Direktors der VAW-Werke. All diese Verbindungen bewirkten, daß der TGH von Anfang an ein großes Interesse auch von Seiten der deutschen Öffentlichkeit entgegen gebracht wurde. Die Gästeliste der ersten Jahresversammlung im Januar 1974 verzeichnete beispielsweise einen Gewerkschaftssekretär der IG Metall, einen Mitarbeiter der SPD-Landtagsfraktion, zwei Mitarbeiter des Industriepfarramtes Hannover und einen Abteilungsleiter der Volkshochschule Hannover, von offizieller türkischer Seite waren außerdem der türkische Vizekonsul und der Arbeits- und Sozialattaché anwesend. Zur zweiten Jahresversammlung im April 1975 war die Liste noch länger und prominenter.[9] Ein solcher Grad an Aufmerksamkeit war dem Verein türkischer Arbeitnehmer selbst in seinen besten Zeiten nicht zuteil geworden.
Auch die beiden konkurrierenden Neugründungen, der Islamische Verein der Türken und die Türkenselbstinitiative, konnten nicht damit rechnen. Dabei hatte zumindest die Türkenselbstinitiative durchaus schon Erfolge vorzuweisen: Nur vier Monate nach ihrer Gründung am 30. Juni 1973 war es ihr bereits gelungen, in zentraler Lage Räumlichkeiten für ein künftiges Vereinslokal anzumieten. Von seiner Entstehungsgeschichte her ähnelte der Verein stark dem zehn Jahre zuvor gegründeten Arbeitnehmerverein, auch hier waren es Akademiker, die beschlossen, eine Begegnungsstätte für Arbeiter zu schaffen: Die drei türkischstämmigen Ingenieure Demir, Okan und Erdoğ riefen den Verein ins Leben. Ergin Okan erinnert sich folgendermaßen:
„Es war eine Notwendigkeit, damals als wir gesetzlich gegründet worden waren. Also, es waren ja keine Vereine da, türkische Vereine. Der Arbeitnehmerverein war aufgelöst, schon zwei Jahre lang und diese Lücke wollten wir doch sofort ... schließen. Deswegen haben wir drei uns zusammengesetzt, die Satzung überlegt, die Satzung geschrieben und dann haben wir die Selbstinitiative '73 gegründet. Aber vorher war ja noch dieser ... Arbeitnehmerverein, die Leute sind auch zu uns gekommen, alle, alle waren sie bei uns Mitglieder.“ (Auszug aus dem Interview mit Bahadır Tunçay und Ergin Okan)
Die Türkenselbstinitiative e.V. setzte den Arbeitnehmerverein praktisch fort, nicht nur was den Mitgliederkreis anging, sondern auch in Hinblick auf die Arbeitsweise, denn in beiden Einrichtungen hatten die einfachen Mitglieder mehr oder weniger den Status von Fürsorgebedürftigen, denen von kompetenten und besser Gebildeten geholfen werden mußte. §3 der Satzung benannte ausdrücklich das Ausnutzen, Ausbeuten und Unterdrücken von „unterprivilegierten Menschen in ihrer Unkenntnis und Sprachbarriere“ als Ausschlußgrund. Ungeachtet dieser paternalistischen Konzeption wurde die Türkenselbstinitiative zur Mitte der 70er Jahre ein wichtiger Treffpunkt, was sicherlich mit der zentralen Lage ganz in der Nähe des Steintorviertels zu tun hatte. Das zuvor weitgehende leerstehende Lagerhaus in der Goethestraße 19 gehörte den hannoverschen Verkehrsbetrieben (ÜSTRA) und war in schlechtem Zustand, bot aber mit 170 m2 in einer Etage genügend Platz.[10] Mit viel Eigenarbeit wurden nach und nach ein Caféraum, eine Küche, ein Speisesaal, ein Fernseh- und ein Leseraum sowie ein Beratungsbüro eingerichtet. Wegen der vielen Schichtarbeiter unter den Mitgliedern wurde der Treffpunkt bereits morgens ab 7 Uhr geöffnet. Zwar gab es auch Sprachkurse für Deutsch, Nähkurse und eine Folkloregruppe, doch im Zentrum stand die Funktion als „Kaffeehaus“, der gesellige Treffpunkt mit preiswertem Essensangebot und angeschlossenem Beratungsservice für Behördenprobleme. Dies lockte zwischen 100 und 150 Besuchern täglich an.
In gewisser Weise wurde damit der Grundstein für die langsame Umwandlung des Steintors zum türkischen Dienstleistungszentrum Hannovers gelegt. Dieser Prozeß, der 1979 auch die Türkische Gemeinde zur Verlagerung ihrer Vereinsräume ans Steintor bewog, verlief ganz allmählich. Das erste Imbißlokal beispielsweise, das von einem türkischstämmigen Geschäftsmann am Steintor eröffnet wurde, hatte mit den Döner-Kebap-Läden, die heute das Gesicht des Platzes mit prägen, nichts zu tun. Es handelte sich um einen Hähnchengrill, der von jenem weiter oben (S.34) bereits erwähnten, angehenden Architekten und zeitweiligen Konsulatsangestellten übernommen und sehr erfolgreich als Verkaufsstätte für Grillhähnchen weiter betrieben wurde. Auch die heute so zahlreichen, auf türkisches Obst und Gemüse spezialisierten Lebensmittelgeschäfte kamen erst später ans Steintor, während der 70er Jahre gab es nur in der weiter entfernt liegenden Markthalle einen entsprechenden Verkaufsstand.
Die dritte Vereinsgründung des Jahres 1973 erfolgte ursprünglich unter dem türkischen Namen „Hannover Türk Ahlâkını Yaşatma Cemiyeti“, was wörtlich „Hannoversche Gesellschaft zur Lebendigerhaltung der türkischen Moral und Sittlichkeit“ bedeutet. Hierin wird das Vereinsziel, nämlich die Erziehung der nachwachsenden Generation durch Korankurse, wesentlich besser erkennbar als in der amtlich registrierten deutschen Namensgebung „Islamischer Verein der Türken in Hannover“. Das Bedürfnis nach Unterrichtung der Kindergeneration im Glauben der Eltern war offenkundig ein drängendes Problem geworden, denn 1973 lebten bereits über 1.800 türkischstämmige und damit in der überwiegenden Mehrzahl muslimische Kinder und Jugendliche unter 15 Jahren in Hannover.[11] Von staatlicher Seite war in dieser Frage weder vom türkischen, noch vom deutschen Staat etwas zu erwarten. Der türkische Staat hatte selbst in der Türkei gerade erst damit begonnen, das religiöse Bildungswesen unter seine Obhut (oder Kontrolle) zu nehmen, ein Engagement im Ausland wurde nicht einmal ansatzweise erwogen. Und den bundesdeutschen Behörden ging in Sachen Islam jegliche Kompetenz ab.
Der neugegründete islamische Verein kam aus dem Arbeitermilieu. Alle sieben bei der Gründungsversammlung anwesenden Personen waren Arbeiter.[12] Behindert durch geringe Deutschkenntnisse[13] dauerte die Suche nach geeigneten Vereinsräumen sehr lang, erst als man Anfang 1975 in der Roscherstraße 8 ein winziges Ladenlokal (35 m2) mieten konnte, kam das Projekt Koranschule voran. Nach eigenen Angaben wurden dort über 150 Kinder unterrichtete,[14] was durchaus glaubwürdig ist, da der Verein zu diesem Zeitpunkt bereits 109 Mitglieder (d.h. Eltern) zählte. Es ist sehr wahrscheinlich, daß viele hiervon zugleich auch Mitglied im Gebetsraum-Verein in der Körnerstraße waren, zumindest gab es auf der Vorstandsebene mehrere personelle Überschneidungen. Insgesamt scheint es eine Arbeitsteilung zwischen beiden Vereinen gegeben zu haben: Der ältere Verein betrieb weiterhin die einzige „Moschee“ der Stadt, während der „Islamische Verein der Türken“ die Korankurse organisierte.
Eine Konkurrenzsituation entstand allerdings mit einem anderen Verein, dem „Islamischen Zentrum Hannover e.V.“, das nur wenige Monate nach dem Islamischen Verein der Türken gegründet wurde. Das Islamische Zentrum wurde von einem gänzlich anderen Personenkreis initiiert, nämlich von persischen und deutschen Muslimen, die neben dem Glauben auch ihr Beruf verband: Sie waren alle Ärzte. Unter Vorsitz eines Arztes aus dem Iran begann auch dieser Verein, Korankurse in seinen Räumen in der Ferdinandstraße abzuhalten.[15] Der weiter oben schon geschilderte „Durchmarsch“ der Grauen Wölfe in der hannoverschen Vereinsszene und ihre Strategie der „feindlichen Übernahme“ von innen heraus brachte schließlich alle drei islamischen Vereine unter eine Führung.
Seit der Gründung des „Vereins türkischer Idealisten in Hannover und Umgebung“ 1974 hatten die Grauen Wölfe zahlreiche Anhänger in Hannover geworben, Anfang 1976 hatte der Verein bereits über 250 Mitglieder.[16] Diesen großen Personenstamm setzte man offenbar für die Übernahme der bestehenden Vereine ein. Die Fäden liefen dabei in Mehmet Gençs Dolmetscherbüro zusammen. Von hier aus wurden die Geschicke sowohl des reanimierten Arbeitnehmervereins, des Vereins zur Erhaltung des islamischen Gebetsraums, des Islamischen Zentrums als auch des Islamischen Vereins der Türken gelenkt. Dies läßt sich recht gut an dem Briefwechsel ablesen, den Genç — entweder als Vorsitzender, als Beauftragter oder als Dolmetscher der betreffenden Vereine — mit der Stadt Hannover führte. In einem Schreiben erklärte Genç sogar, daß man ohneweiteres die drei islamischen Vereine (Islamischer Verein der Türken, Verein zur Erhaltung des islamischen Gebetsraumes, Islamisches Zentrum) zu einem einzigen Verein zusammenschließen könne, wenn dadurch die Förderungswürdigkeit in Augen der Stadt steige.[17] Damit wurde allerdings genau das Gegenteil bewirkt, denn bei der Stadtverwaltung, die anfänglich durchaus Bereitschaft gezeigt hatte, dem Islamischen Verein bei der Beschaffung größerer Räume für den Koranunterricht behilflich zu sein, löste die Beliebigkeit, mit welcher mal dieser, mal jener Verein in den Vordergrund geschoben wurde, um Unterstützungsleistungen einzufordern, zunehmend Mißtrauen aus. Letztlich gelang es den Grauen Wölfen aber auch ohne kommunale Unterstützung, für den Islamischen Verein im September 1976 in der Herschelstraße 4 eine ganze Etage von 260 m2 zu mieten, nachdem man für sich selbst bereits im Jahr zuvor im Nachbarhaus Nr.5[18] ein kleineres Vereinslokal gefunden hatte.[19] Da der — ebenfalls von den Grauen Wölfen dirigierte — Arbeitnehmerverein seit 1975 in einem Lindener Hinterhof (Fössestraße 79) auch ein Vereinslokal unterhielt, verfügte die extreme Rechte zeitweilig über vier Versammlungsorte in Hannover.[20] Offenbar war man aber bemüht, statt der vielen kleinen Treffpunkte mit dem Haus Herschelstraße 4 ein großes Zentrum mitten in der City aufzubauen. Welch weitreichenden Pläne man damals schmiedete, verrät die 1976 erfolgte Gründung der „Vereinigung türkischer Vereine in Norddeutschland e.V.“, welche alle bis dahin übernommenen Vereine zusammenfaßte und von Mehmet Genç persönlich geleitet wurde.[21] Als 1978 auch noch das Islamische Zentrum und der Gebetsraumverein in die Herschelstraße 4 umzogen, befand sich das ‚Imperium‘ der Grauen Wölfe auf dem Höhepunkt — danach zerfiel es jedoch rasch. Die Gründe hierfür sind vielfältig (vor allem emanzipierten sich die Islamisten von der Dominanz der extremen Rechten), eine wichtige Rolle spielte aber auch die zunehmende Interaktion der türkischen Vereine mit der hannoverschen Kommunalpolitik, was in einem kurzen Rückblick erörtert werden muß.
Entstehung des ersten Ausländerbeirats (1975)
Die Stadt Hannover hatte sich lange vor der Einsicht verschlossen, daß die Auswirkungen der de-facto-Einwanderung
der Arbeitsmigranten auch eine kommunale Angelegenheit waren. Da die Zuwanderung in Bundesverantwortung (Arbeitsämter)
eingeleitet worden war, mühte man sich nach Kräften, jede Abwälzung mutmaßlicher Bundesaufgaben auf die Kommune
abzuwehren.[22] Als etwa der niedersächsische Sozialminister
Kurt Partzsch in einem Erlaß vom 22. November 1971 die flächdeckende Gründung örtlicher AGs nach dem Vorbild der
Landes-AG „Probleme der Betreuung von ausländischen Arbeitnehmern“ empfahl, entspann sich ein zäher Disput
zwischen Arbeitsamt und Stadt, wer denn nun die „Federführung“ übernehmen müsse. Das Landesarbeitsamt Bremen/Niedersachsen
hatte zwar von sich aus schon früher darauf gedrängt, daß solch ein Koordinierungskreis in Hannover entsteht, aber
stellte sich nun, da die Stadt durch den Erlaß in Zugzwang war, stur.[23]
Am Ende mußte die Stadt die ungeliebte Arbeitsgemeinschaft selbst übernehmen, das Arbeitsamt erklärte sich nur bereit,
die konstituierende Sitzung auszurichten.[24] Auf Vorschlag der
Wohlfahrtsverbände wurden je ein türkischer und ein jugoslawischer Sozialbetreuer als „ausländische Experten“ in die
Runde aus Ratsmitgliedern und Verwaltungsvertretern aufgenommen.[25]
Die Arbeitsgemeinschaft tagte insgesamt acht Mal, erstellte eine Bestandsaufnahme zu einigen Themenbereichen wie
Wohnungsnot, Schulproblemen oder Gesundheitsversorgung und löste sich dann
auf.[26] Damit war der Erlaß von oben pflichtschuldig, aber
folgenlos ‚abgearbeitet‘ worden.[27]
Doch ließen sich die wachsenden Probleme des Einwanderungsalltages auf Dauer mit solch einer Verschleppungspolitik nicht bewältigen. Dies bekamen nach und nach alle Ressorts der Stadtverwaltung zu spüren. Nach der kritischen Wohnraumfrage trat vor allem die Schulproblematik hervor. Im Schuljahr 1973/74 gingen allein 670 Kinder türkischer Herkunft auf hannoversche Grundschulen (damals: „Volksschulen“). Auf ihre Schwierigkeiten mit der deutschen Sprache hatte man mit Einrichtung von Vorbereitungsklassen, Förderunterricht und muttersprachlichem Zusatzunterricht reagiert. Wie alarmiert die Stimmung in der Verwaltung war, zeigt ein Gutachten, das 1973/74 vom Jugendamt erstellt wurde.[28] In Auftrag gegeben hatte es eine „Kleine Kommission für Fragen der Betreuung von Kindern ausländischer Arbeitnehmer“, die fast 1½ Jahre Vorbereitung brauchte, bevor sie 1973 erstmals zusammentreten konnte, und letztlich nur wenig erfolgreicher wirkte als die zuerst genannte „Arbeitsgemeinschaft“.[29] Vielleicht war das wichtigste Resultat dieser sonst folgenlosen administrativen Bewältigungsversuchen, daß sie den Weg bahnten für die Einrichtung des ersten hannoverschen Ausländerbeirates.
Am 16. Mai 1974 beschloß der Rat der Stadt Hannover auf Antrag der regierenden SPD-Fraktion, einen förmlichen Ausländerbeirat zu schaffen. Das Procedere war kaum anders als bei den zuvor eingerichteten Kommissionen, die ausländischen Vertreter wurden nämlich nicht gewählt, sondern von deutschen Organisationen benannt. Geblieben war auch das Prinzip, nur Staatsangehörige aus den fünf Anwerbeländern Jugoslawien, Spanien, Italien, Griechenland und Türkei zu berücksichtigen. Neu war jedoch, daß nun außer den Wohlfahrtsverbänden auch die beiden großen Kirchen und der Deutsche Gewerkschaftsbund das Recht erhielten, bei der Ernennung von Beiratsmitgliedern mitzuwirken.[30] Pro Nationalität wurden vier Vertreter ernannt, fünf Ratsmitglieder komplettierten das Gremium auf 25 stimmberechtigte Personen, das erstmalig am 17. März 1975 zusammentrat.[31] Vorsitzender des Beirats wurde Şeref Pahna, der wenig später als Gründungsmitglied eines „Bildungsverein für internationale Arbeiter in Hannover e.V.“ in Erscheinung trat. Von diesem kurzlebigen Verein wird sogleich noch zu handeln sein.
Gleichzeitig mit dem Beirat wurde in der Stadtverwaltung erstmals eine Stelle eingerichtet, die sich ressortübergreifend mit „Ausländerfragen“ zu befassen hatte. Wichtigster Aspekt dieser Neuerung war, daß die — später „Stelle für referatsübergreifende Ausländerangelegenheiten“ genannte — Einrichtung über einen eigenen Haushaltstitel von anfänglich 40.000 Mark zur Förderung von Ausländervereinen verfügte.[32] Über die Vergabe entschied eine Kommission in Absprache mit dem Ausländerbeirat, der dadurch zu einer relevanten Größe für die türkischen Vereine in der Stadt wurde. Fast alle Kenntnisse, die die Stadt Hannover aus eigener Kraft über die Vereine der ArbeitsmigrantInnen gewonnen hat, beruhen auf den Kontakten, die aus dem bald sehr eifrigen Bemühen der Vereine um städtische Beihilfen herrührten. Die Vereine mußten in dem teilweise recht umständlichen Beihilfeverfahren ihre Aktivitäten, Besitzverhältnisse und Haushaltspläne offenlegen. Teilweise gab es auch Ortbegehungen durch Mitglieder der Vergabekommission.[33] Auch wenn es dem Ausländerbeirat also als Gremium an einer demokratischen Legitimierung fehlte, führte seine Einrichtung zu einer deutlich verbesserten Anbindung der bereits bestehenden Vereine an die kommunalen Strukturen. Außerdem besaß die Stadt nun erstmals ein Instrument, mit welchem sie Einfluß auf die Gestaltung der Vereinsszene nehmen konnte, bzw. zu nehmen versuchen konnte.
In der ersten Vergaberunde 1975 gingen aus dem 40.000 Mark-Topf 9.180 Mark an die Türkenselbstinitiative[34], 3.000 Mark an die Türkische Gemeinde[35] und 1.500 Mark an den Islamischen Verein. Die Präferenzen waren klar erkennbar. Noch deutlicher bezog die Stadt schließlich in den Auseinandersetzungen während der Vergaberunde 1977 Stellung. In einem ersten Entwurf hatte man 4.000 Mark Beihilfe für den Islamischen Verein veranschlagt, woraufhin Teoman Atalay — zu diesem Zeitpunkt Vorsitzender des Ausländerbeirates — Protest erhob: Der Koranunterricht des Islamischen Vereins unterlaufe die Bemühungen um Integration der Zweiten Generation.[36] Nedim Yalçın, erster Vorsitzender des Islamischen Vereins — zu dieser Zeit ebenfalls Mitglied des Ausländerbeirats —, klagte nun seinerseits, es sei ungerecht, daß man beabsichtige, der Türkischen Gemeinde 10.000 Mark Beihilfe zu geben, da mit solch einer Ungleichbehandlung nur Neid unter den Vereinen erzeugt werde. Doch im Zuge der damals aufkommenden Medienkampagne gegen die türkischen Koranschulen hatte Yalçıns Ruf nach Gleichbehandlung wenig Chancen.[37] Das endgültige Aus kam mit der Antwort des niedersächsischen Verfassungsschutzes auf eine Anfrage, welche die Stadt eigentlich im Zusammenhang mit einem entsprechenden Beihilfeantrag des Idealistenvereins gestellt hatte. Da der Verfassungsschutz mitteilte, nicht nur der Idealistenverein, sondern auch der Islamische Verein (und der Verein türkischer Arbeitnehmer) seien von der MHP unterwandert, wurden beide Beihilfeanträge abgelehnt. Ebenso abgelehnt wurde ein Beihilfeantrag der „Vereinigung türkischer Vereine in Norddeutschland“.[38] Verärgert protestierte Mehmet Genç in einem Schreiben dagegen, daß Vereine wie TGH und Türkenselbstinitiative tausende von Mark erhielten, ‚seine‘ Vereine jedoch leer ausgingen, und unterstellte, Teoman Atalay sei daran schuld, weil er seine Position im Ausländerbeirat zur Erzielung von Vorteilen für ‚seinen‘ Verein ausgenutzt habe.
Tatsächlich aber verfolgte die Stadtverwaltung eine ganz eigene Linie, die auf Schaffung einer zentralen „Ausländer“-Einrichtung abzielte und der Aufsplitterung in nationale Einzelorganisationen eher ablehnend gegenüberstand. Anfang 1975 erörterte man z.B. verwaltungsintern die Möglichkeit eines internationalen Begegnungszentrums für ausländische Arbeitnehmer, für welches das Sozialministerium bereit war, Mittel bereitzustellen.[39] Dies darf man nicht mit heutigen Vorstellungen von Multikulturalität verwechseln, denn „Ausländer“ im Sinne der Verwaltung waren damals letztlich nur die sog. „Gastarbeiter“. Dies hatte sich ja auch schon bei der Konzeption des „Ausländerbeirats“ gezeigt: An eine Repräsentation aller HannoveranerInnen ohne deutschen Paß war dabei nicht gedacht worden. Am ehesten erfüllte der 1975 gegründete „Bildungsverein für internationale Arbeiter in Hannover e.V.“ die Vorstellungen der kommunalen Förderer. Laut Satzung war vorrangiger Vereinszweck die „Einrichtung eines Bildungs- und Begegnungszentrums für ausländische Arbeiter“ sowie „Maßnahmen zur Integrationsförderung“. Der Verein wollte überparteilich, international und überkonfessionell sein. Trotz anfänglichen Zauderns engagierte sich die Stadt bald sehr intensiv für diesen Verein, mahnt sogar eine Sanitärfirma, sie solle dem Verein Rabatt gewähren für renovierungsbedingten Einkäufe, nachdem dieser — ebenfalls durch städtische Vermittlung — in einem Sanierungsobjekt in Linden-Süd (Allerweg 8) Räume erhalten hatte. Zusätzlich zu einer einmaligen Renovierungsbeihilfe von 3.000 Mark bewilligte man noch weitere 6.000 Mark für die laufende Vereinsarbeit — der „Bildungsverein“ wurde also bereits vom Start weg ähnlich hoch gefördert wie die Türkenselbstinitiative. Doch schon nach kurzer Zeit endete das Projekt kläglich. Zum einen erwies sich die angestrebte Internationalität als Wunschtraum, faktisch war ein weiterer Treffpunkt von und für Türkischstämmige entstanden.[40] Zum anderen wurde auch der Bildungsverein Opfer eines Übernahmeversuches durch die Grauen Wölfe.[41] Da außerdem durch Mißwirtschaft Schulden entstanden waren, beschloß der Verein nach nicht einmal zwei Jahren Existenz im Juni 1977 die Selbstauflösung. Nach diesem Fiasko begrub die Stadt ihre ‚internationalen‘ Pläne und konzentrierte ihre materielle wie ideelle Förderung auf ein Vorzeigeprojekt: die Türkische Gemeinde Hannover, die bald im Rufe stand, der größte Ausländerverein in der ganzen BRD zu sein.[42] Die türkischen Vereine aus dem rechten und islamischen Spektrum hingegen wurden von allen kommunalen Zuwendungen abgeschnitten, was für ihre Führungsriege einen erheblichen Prestigeverlust dargestellt haben muß.
Die Islamisten emanzipieren sich (1978)
Die größte Herausforderung für die Hegemonie der Grauen Wölfe erwuchs im islamistischen Lager, hier wurden sie mit
ihren eigenen Mittel geschlagen. Bei den Vorstandswahlen 1978 im „Islamischen Verein der Türken“ putschte sich — mit
ähnlich unfeinen Mitteln wie zuvor die Grauen Wölfe — eine andere Gruppierung an die Macht. Der neue Vorstand um
Hüseyin Işık setzte sofort alle Hebel in Bewegung, um den Verein unter das Dach der islamisch fundamentalistischen Milli
Görüş-Bewegung[43] zu führen. Als erste Amtshandlung des neuen
Vorstands trat der Islamische Verein aus dem rechten Dachverband, der „Vereinigung türkischer Vereine in Norddeutschland“,
aus. Gleichzeitig betrieb man die Eintragung einer neuen Satzung, die die Beschränkung der Mitgliedschaft auf türkische
Staatsbürger aufhob, die neue Satzung sprach nur noch von „Muslimen“. Entsprechend wurde der Vereinsname von „Islamischer
Verein der Türken in Hannover“ auf „Islamischer Verein in Hannover“ verkürzt. Vergeblich focht Mehmet Genç als Vertreter
des alten Vorstands die Wahl gerichtlich an, die sich über Jahre hinziehenden juristischen Geplänkel konnten den Machtwechsel
nicht ungeschehen machen.[44] Da 1979 beim Islamischen Zentrum
ebenfalls eine neue Satzung eingetragen wurde, die bis in die religiösen Floskeln hinein der des Islamischen Vereins glich,
darf man annehmen, daß der Machtkampf zwischen den Grauen Wölfen und den Islamisten sich nicht auf einen Verein beschränkte.
Auf gewisse Weise rächte es sich nun, daß man alle bestehenden religiösen Vereine in dem ehemaligen Bürohaus in der
Herschelstraße zusammengeführt hatte. Der Gebetsraumverein war im Islamischen Verein aufgegangen, nachdem mit dem Wegfall
der räumlichen Trennung von Moschee und Koranschule kein Bedarf mehr für zwei Trägervereine bestand. Der Verein Islamisches
Zentrum blieb zwar noch etliche Jahre bestehen, entfaltete aber kaum noch eigenständige Aktivitäten.
Die Machtübernahme durch die Milli Görüş-Fraktion war aber nicht nur für die Anhänger des türkischen Faschistenführers Alparslan Türkeş ein Ärgernis, sondern sie beendete auch die mehr oder weniger friedliche Koexistenz der unterschiedlichen islamistischen Strömungen im Rahmen der bis dahin bestehenden religiösen Vereine. Vor allem die Anhänger der mystischen Bruderschaft („tarikat“) der Süleymancı sahen sich nun genötigt, einen eigenen Treffpunkt, die spätere Fatıh-Moschee in der Gerberstraße 3, aufzubauen.[45] Damit setzte auch auf dem religiösen Gebiet ein Prozeß ein, der allgemein in der türkischen Vereinslandschaft zu beobachten war: An die Stelle der frühen, lokalen Gründungen, die als Reaktion auf Bedürfnisse und Probleme vor Ort entstanden waren, traten Vereine, die als Filialen großer Organisationen, Dachverbände oder Parteien in der Türkei agierten. Da die türkische Verfassung es Parteien verbietet, im Ausland tätig zu werden, schufen sich nach und nach alle wichtigen türkischen Parteien — zur Wahrung ihrer Interessen unter den Arbeitsmigranten — passende Vereine in der BRD, die Idealisten-Vereine der Grauen Wölfe waren nur der Anfang gewesen. Letztlich wurden so die sozio-politische Organisationsstrukturen der Türkei in die Bundesrepublik importiert.
Dies geschah auch in Hannover. Am Ende der 70er Jahre waren hier bereits die beiden Parteien der nationalistischen bzw. islamistischen Rechten mit eigenen Vereinen vertreten, die MHP mit dem Idealistenverein und dem Arbeitnehmerverein, die MSP[46] mit dem Islamischen Verein. Hinzu kamen nun die beiden wichtigsten muslimischen Bruderschaften, die Süleymancı (Islamisches Kulturzentrum e.V.) und die Nurcu (Islamische Gemeinde der Jama‘at un-Nur, Zweigorganisation Hannover).[47] Und Ende 1979 entstand mit dem „Türkischen Volkshaus Hannover e.V.“ ein Verein, der die Parteilinie der Kommunistischen Partei der Türkei (TKP) vertrat (siehe unten S.). Nur die Türkische Gemeinde und die Türkenselbstinitiative hielten als ‚autochtone‘ Gründungen an ihrer überwiegend lokalen Orientierung und Zielsetzung fest.[48]
Der Stern der Türkenselbstinitiative war allerdings gegen Ende der 70er Jahre ganz allmählich im Sinken begriffen, da ihre Hauptattraktion — das kostenlose Serviceangebot in zentraler Citylage — nicht mehr konkurrenzlos war. Außerdem mußte 1978 der langjährige Geschäftsführer, Dolmetscher und Sozialberater des Vereins, Bahadır Tuncay, zum Militärdienst in die Türkei zurückkehren. An seine Stelle trat für einige Zeit Elçin Kürşat, die zuvor schon Deutschunterricht in der Türkenselbstinitiative erteilt hatte. 1979 allerdings wechselte sie zur TGH. Als dann zwei Jahre später auch der Vereinsmitgründer Ergin Okan ausschied, um sich ganz der aus dem Verein hervorgegangenen Arbeitnehmergesellschaft in der Türkei zu widmen, entstand ein Bruch in der Vereinsführung, den die nachfolgenden Vorstände nicht wettmachen konnten. Eine Interviewpassage, in welcher Elçin Kürşat darlegt, warum sie sich lieber fürderhin bei der TGH engagierte, spiegelt die damalige Situation in der Türkenselbstinitiative:
„Bis auf die Kurse, für die ich mich stark gemacht habe [Frauengruppe, Sprachkurse], gab es fast nur das Caféhaus, über das sich der Verein finanziert hat. Der hatte mehr Fürsorgefunktionen. Es gab auch verbilligtes Mittagessen, das war sehr wichtig. Die Küche stand im Mittelpunkt aller Aktivitäten. Das preiswerte Essen zog die Leute an. [...] Ich hatte gemerkt, daß ich mit meinem Einsatz für eine kulturelle Arbeit bei der Türkenselbstinitiative nicht recht vorankam, die Widerstände waren einfach zu groß.“
(Auszug aus dem Interview mit Elçin Kürşat)
Die Selbstinitiative, die von vornherein am stärksten dem alten Modell der „Fürsorge“ für alleinstehende, männliche Arbeitsmigranten verhaftet gewesen war, vermochte es also trotz einiger Bemühungen nicht, sich den neuen Verhältnissen anzupassen.
Kometenhafter Aufstieg der „Türkischen Gemeinde Hannover e.V.“
Ganz anders die Türkische Gemeinde Hannover: Sie erlebte nach 1978 eine Entwicklung, die bundesweit einmalig
war — zeitweilig galt die TGH eben nicht nur als größter Ausländerverein in der BRD, sondern auch als
Modellprojekt mit Bedeutung weit über Hannover hinaus. Begonnen hatte die Gemeinde — wie oben bereits
dargestellt — als eine Art Werksvereins der VAW Leichtmetall, eine Eindruck, der noch dadurch verstärkt wurde,
daß die VAW dem Verein Anfang 1975 kostenlos Räume im Schlorumpfsweg für seine Arbeit zur Verfügung
stellte.[49] Der erste Schritt zur Veränderung war
die von Teoman Atalay vorangetriebene Verschmelzung mit zwei anderen, kurz zuvor entstandenen Arbeitervereinen,
die 1978 vollzogen wurde.
Der ältere der beiden, der „Türkisch-Deutsche Kultur- und Sozialverein Hannover und Umgebung e.V.“, war Ende 1976 von dem Gewerkschafter und VW-Betriebsrat Nimet Gökçe gegründet worden. Er bestand also zum Zeitpunkt der Fusion mit der TGH seit etwas mehr als einem Jahr. Über diesen Verein ist nicht sehr viel bekannt,[50] man kann aber annehmen, daß er ganz wie die TGH eine zunächst firmennahe Einrichtung war. Die Volkswagen-Werke in Hannover hatten seinerzeit etliche hundert türkischstämmige Beschäftigte und waren sicher einer der größten Arbeitgeber für MigrantInnen aus der Türkei in der Region.[51] In der Nähe des Werkes in Stöcken unterhielt VW auch eigene Wohnheime, so daß es weder an Aufgaben, noch an potentiellen Mitgliedern für einen eigenen Sozialverein mangelte.
Der zweite Verein, der mit der TGH fusionierte, war nur wenige Monate zuvor von neun Arbeitern gegründet worden. Dieser „Verein der vereinigten türkischen Arbeiter in Hannover e.V.“ unterschied sich deutlich von den anderen beiden, vor allem aufgrund seiner Mitgliederzusammensetzung: Da alle neun Teilnehmer der Gründungsversammlung zu den untereinander verwandten alevitischen Großclans der Ertürks und Yıldırıms gehörten, stellt dieser Verein wohl den ersten Versuch dar, die alevitische Subgruppe der Einwanderer aus der Türkei in Hannover zu organisieren.[52] Zentrale Persönlichkeit dieser Gruppe war Necmi Yıldırım, der Patriarch des Yıldırım-Clans. Die Fusion der drei Vereine kam als direkte Übereinkunft der drei autokratischen Chefs Atalay, Gökçe und Yıldırım zustande.[53] Falls einige Vereinsmitglieder mit diesem Schritt nicht einverstanden waren, blieb ihnen letztlich nur der Austritt.[54] Daß die Zusammenarbeit der drei Chefs gleichwohl nicht einfach war, spiegeln schon die protokollarischen Feinheiten der ersten gemeinsam durchgeführten Jahreshauptversammlung (April 1979).[55] Tatsächlich kam es recht bald zum Bruch mit Nimet Gökçe, da dieser jedoch nicht versuchte, seinen alten Verein wiederzubeleben, hinterließ sein Rückzug keine gravierenden Folgen. Die Interessenallianz zwischen den verbleibenden beiden Patriarchen sollte sich stabilisieren und die folgenden Jahren bestimmen.
Erst durch die Absorbierung der beiden anderen Vereine kam die TGH zu einer sozialen Streuung und Breite in der Mitgliedschaft, die ihrer ambitionierten Vereinssatzung („Zusammenschluß aller Türken“) zu entsprechen begann. Da die Fusion außerdem zeitlich mit der Vorbereitung des Umzuges des Vereins vom abgelegenen Schlorumpfsweg in neue, zentrale Räumlichkeiten am Steintor (Münzstraße 4) einherging, kann man durchaus sagen, daß die später als Modellprojekt gepriesene Türkische Gemeinde erst 1978/79 wirklich geboren wurde. Die Neueröffnung in der Münzstraße erfolgte zum 1. August 1979, die Renovierungs- und Umbauarbeiten währten allerdings schon seit Anfang des Jahres.[56] Begonnen hatte man mit einer Etage in dem fünfstöckigen Bürohaus, mit dem raschen Anwachsen ihrer Aktivitäten übernahm die Gemeinde jedoch nach und nach das ganze Haus und baute es in Eigenregie zu einem Bildungs-, Jugend- und Frauenzentrum, einer Begegnungsstätte und einem Restaurant um. Dabei war nicht so sehr das gewaltige Finanzvolumen der Vereinstransaktionen bemerkenswert — in dieser Hinsicht konnte auch die Türkenselbstinitiative eine beachtliche Bilanz (weit über 200.000 Mark im Jahr) vorweisen —, sondern die konsequente und vor allem erfolgreiche Orientierung auf neue Zielgruppen jenseits der klassischen Klientel (der männliche ‚Gastarbeiter‘, 30-50 Jahre alt). In Zusammenarbeit mit dem niedersächsichen Kultusministerium, den Bildungseinrichtungen der Gewerkschaften, der Volkshochschule und dem Deutschen Sprachenverband Mainz wurden Vorbereitungskurse auf Hauptschulabschluß und Berufsschulbesuch, Förderkurse für Berufs- und Oberstufenschüler, Deutsch-Kurse für unterschiedliche Zielgruppen sowie Näh- und Schneiderkurse eingerichtet. Das Angebot richtete sich also vor allem an Jugendliche und Frauen, und es war in dieser Breite und Professionalität konkurrenzlos.[57] Welch außerordentliches Renommee die Türkische Gemeinde sich dadurch erarbeitete, zeigt ein kurzer Blick auf die Gästeliste der Jahreshauptversammlung 1983: Sie reichte vom Oberstadtdirektor, verschiedenen Landtagsabgeordneten und Vertretern des Bundesarbeitsministeriums über den Stadtsuperintendenten der evangelischen Landeskirche bis hin zu Vertretern der Polizei, der Gewerkschaft und der Handwerkskammer.[58] Um so überraschender kam im Dezember des gleichen Jahres der vollständige Zusammenbruch des Vereins, der sich binnen einen Monats praktisch in Nichts auflöste und Konkurs anmelden mußte.[59] Läßt man die juristischen Nachwehen, die sich bis 1985 hinzogen, außer acht, so hat die Hochphase der Türkischen Gemeinde nur 4½ Jahre gewährt. Und doch hat sie die Geschichte der türkischen Einwanderung nach Hannover nachhaltig geprägt. Kein anderer Verein markiert so deutlich den Wechsel in den Formen der Selbstorganisation weg von den „Arbeitervereinen“ und hin zu den sog. „kulturellen Zentren“, wie dieser Organisationstyp oft genannt wird. Außerdem setzte der kometenhafte Aufstieg der TGH der Hegemonie der Grauen Wölfe in der türkischen Vereinsszene endgültig ein Ende und verwies das rechte Milieu auf eine Randstellung, die es auch heute noch inne hat.
Damit ist meine Darstellung der Chronologie allerdings schon um einiges in die 80er Jahre vorausgeeilt. Zunächst muß die Betrachtung der 70er Jahre abgeschlossen werden, wozu es nötig ist, sich von der Engführung des Blicks allein auf die größeren Akteure wie TGH, Graue Wölfe oder Islamischer Verein zu lösen. Denn auch in der zweiten Hälfte der 70er Jahre setzte sich die Ausdifferenzierung der organisierten Szene fort. Gab es im Jahr 1977 bereits 13 aktive türkische Vereine in Hannover, kamen im Zeitraum zwischen 1977 und 1980 sieben neue hinzu, während fünf Vereine ausschieden (siehe Tabelle 7).
Quelle: Eigene Auswertung des Vereinsregisters am Amtsgericht Hannover
Tabelle 7: Neugründungen und Gesamtzahl türkischer Vereine in Hannover (1960-1980)
Nur zwei der sieben neu gegründeten Vereine wurden bisher angesprochen: das Islamische Kulturzentrum, also jene Moschee, welche die Süleymancı-Bruderschaft 1979 in der Gerberstraße 3 eröffnete,[60] und der 1977 gegründete Verein der vereinigten türkischen Arbeiter in Hannover, welcher bereits im Jahr darauf in der TGH aufging. 1977 wurde auch der heute noch sehr erfolgreiche Fußballverein „S.V. Damla Genç e.V.“ gegründet — als erster eingetragener, türkischer Sportverein in Hannover überhaupt. Da im Rahmen des Forschungsprojekt jedoch eine separate Studie über die türkischen Sportvereine entstanden ist, sei an dieser Stelle für die sehr bewegte Geschichte Damla Gençs und aller anderen Sportvereine auf diese Arbeit von Lars Hellriegel verwiesen.[61]
Bei den restlichen vier Vereinen handelt es sich um folgende:
Abschließend kann man die 70er Jahre charakterisierend als eine Phase der Hegemonie der extrem politischen Rechten, d ie allerdings weniger über die politische Orientierung der Mehrheit der türkischstämmigen Bevölkerung in Hannover sagt als über die organisatorische Geschicklichkeit bzw. Rücksichtslosigkeit der Grauen Wölfe. Weiterhin war das Jahrzehnt gekennzeichnet durch eine rasche Ausdifferenzierung des Organisationsspektrums, welches sich allmählich den türkischen — nicht den deutschen! — Verhältnissen anglich. Bemerkenswert ist dabei die Tatsache, daß all die Auseinandersetzungen — die sich in anderen Großstädten bis zu Ausschreitung mit Toten und Schwerverletzten aufschauckeln konnten — in Hannover vergleichsweise ruhig verliefen. Hierzu der Zeitzeuge Arif Aydoğdu:
„Zum Glück ist in Hannover alles friedlich abgelaufen. Alle in den Vereinen kennen sich untereinander und trotz unterschiedlicher Ideen wollten wir nicht miteinander kämpfen. In Hannover ging es gut, aber in Köln und in Frankfurt hat es Straßenkämpfe gegeben. Wenn es hier Ärger gab, sind wir hingegangen und haben geredet. Schließlich müssen wir zusammenleben, wir können nicht gegeneinander kämpfen!“
(Auszug aus dem Expertengespräch mit Arif Aydoğdu)
Gleichzeitig nahmen die Einmischungen von deutscher Seite zu, waren aber noch eher zaghaft. Mit der Abschaffung des Ausländerbeirats 1979 und der Ersetzung durch einen „Ratsausschuß für Ausländerangelegenheiten“, der sich aber als arbeitsunfähig erwies und seinerseits 1981 ersatzlos gestrichen wurde, beraubte sich die Kommune auch noch mutwillig des wichtigsten Instruments der Einflußnahme.[66] Gleichwohl begann sich die deutschsprachige Öffentlichkeit allmählich mit der Existenz einer türkischstämmigen Minderheit in der Stadt zu beschäftigen, was sich z.B. auch in einer Zunahme von größeren Presseberichten über Ereignisse in der türkischen Szene in den beiden großen lokalen Tageszeitungen ausdrückte. Tatsächlich war die Etablierung dieser Minderheit in der Stadt angesichts solcher Großeinrichtungen wie der TGH und der Türkenselbstinitiative im Stadtzentrum sowie der beiden Moscheen in der Herschel- und Gerberstraße ja auch nicht mehr zu übersehen.
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Inhaltsverzeichnis
Hinweis des Autors
Der vorliegende Text wurde 1999 als Abschlussbericht des Projekts „Gemeindestrukturbildung und ethnisches/religiöses
Protestpotential bei türkischstämmigen Migrantinnen und Migranten in Niedersachsen“ an die Förderinstitution fertigestellt
und seither nicht publiziert. Die hier vorliegende Onlinefassung von 2021 stellt somit die Erstveröffentlichung dar.
Das Copyright liegt beim Autor.
Fußnoten