Abschlussbericht Projekt Koloniebildung (1999)
Im Jahre 1950 wurde mit der Immatrikulation des (neuerlich) ersten Studenten aus der Türkei an der Technischen Hochschule ein neues Kapitel in den hannoversch-türkischen Beziehungen aufgeschlagen. Hannover erwies sich nämlich rasch als regelrechter Magnet für Ingenieursstudenten aus der Türkei. Ihre Zahl stieg stetig, bis im Jahr 1962 mit 90 eingeschriebenen Studenten aus der Türkei ein vorläufiger Höchststand erreicht wurde.[1]
Quelle: siehe Fußnote 1
Anmerkung: Die Reihe der Sommersemester-Daten ist unvollständig.
Tabelle 1: Studierende aus der Türkei an der TH Hannover (1950-1962)
Rechnet man türkische HochschulabsolventInnen auf Suche nach Praktikumsplätzen hinzu, so machten die Bildungsmigranten bis 1960 ungefähr die Hälfte aller türkischen Staatsangehörigen in Hannover aus (siehe Tabelle 2). Wie kam es zu solch einer — auch im bundesweiten Vergleich überdurchschnittlichen — Konzentration von Studenten aus der Türkei in Hannover?[2] Schließlich muß man berücksichtigen, daß Hannover in den frühen 50er Jahren immer noch weitgehend in Trümmern lag, allgemeine Wohnraumnot und Zwangsbewirtschaftung herrschte und daß auch die Gebäude der TH — selbst unter höchstem Arbeitseinsatz der ersten Studierenden — nur notdürftig hatten repariert werden können. Die türkischen Studenten hingegen kamen aus einem Land, das von kriegsbedingten Zerstörungen verschont geblieben war[3] und wirtschaftlich in der ersten Hälfte der 50er Jahre vergleichsweise gut dastand. Die Ruinenlandschaften der ausgebombten deutschen Städte mit ihrem massenhaften Flüchtlingselend konnten ihnen kaum sonderlich attraktiv erscheinen.
Quelle: Statistikstelle der Stadt Hannover und Fußnote 35
Anmerkung: Für die Zeit vor 1960 liegen nur unregelmäßige Daten vor.
Tabelle 2: Relation türkischer Studierendet und türkischer Einwohner insgesamt (1950-1962)
Antworten auf diese Fragen brachten Interviews mit ehemaligen Studenten dieser Zeit: Zum einen war ein Studium in Deutschland in den 50er Jahren — dank des staatlich fixierten Tauschkurses von 1 DM zu 0,67 TL — nicht teuerer als eines in Istanbul oder Ankara. Zum anderen verfügt die Türkei mit je einer Universität und einer TU in Istanbul, sowie der 1955 neu eröffneten Technischen Universität Ankara über ganze drei wissenschaftliche Hochschulen, die den gesamten akademischen Nachwuchs des Landes ausbilden mußten. In manchen Bereichen wie z.B. Bauwesen gab es deshalb einen Mangel an Studienplätzen. Außerdem konnte man an einer Technischen Hochschule, wie es sie damals in der BRD außer in Hannover noch in acht weiteren Städten[4] gab, den Ingenieurstitel in nur 8 Semestern erlangen. In der Türkei hingegen, wo es nur reguläre Universitäten gab, wurden immer volle 10 Semester (wie an den BRD-Universitäten) benötigt. Selbst wenn man also ein Vorbereitungssemester für das Erlernen der deutschen Sprache abzog, kam man über den Umweg des Auslandsstudiums an einer TH schneller zum Ziel.
„Erst einmal sind es an einer Technischen Hochschule vier Jahre, bei uns waren es fünf Jahre an der Universität, um Bauingenieur zu werden. Hier hat es an der Universität, z.B. in Berlin, auch fünf Jahre gedauert, aber an den Technischen Hochschulen waren es damals vier Jahre. [...] Beide bekamen den Diplom-Ingenieur, später fragte doch keiner. Dann sagten wir uns, Mensch! Da haben wir unter uns ausgemacht: vier Jahre Studium, ein halbes Jahr können wir Deutsch lehren (imitiert die Stimme eines überheblichen Jugendlichen) und ein halbes Jahr können wir ein bißchen in Deutschland rumreisen. Dann nach fünf Jahren haben wir eine Sprache und ein Diplom in der Tasche und können zurückkommen. So haben wir uns das ausgemalt, sozusagen.“
(Auszug dem Gespräch mit Kemal Poyraz, der 1957 in Hannover zu studieren begann)
Dies dürfte zu einem großen Teil erklären, warum von den insgesamt 418 türkischen Studierenden, die zusammen mit Herrn Poyraz zum Wintersemester 1957/58 in Westdeutschland und West-Berlin das Studium aufnahmen, sich 333 (79,7%) an einer Technischen Hochschule einschrieben.[5]
In Großstädten wie Ankara halfen spezialisierte Dolmetscherbüros den Interessenten dabei, Studienplatzbewerbungen gleich im Dutzend an BRD-Hochschulen zu verschicken, so daß manche schließlich mehrere Zusagen aus verschiedenen Städten zu Auswahl hatten. Für die Wahl des Studienortes Hannover sprach dann offenbar die Mundpropaganda unter den angehenden Studenten im vorbereitenden Sprachunterricht: Dort sollte das auf der Straße gesprochene Deutsch noch die größte Ähnlichkeit mit jenem Schriftdeutsch haben, welches sie in den Deutschkursen beispielsweise der Goethe-Institute beigebracht bekamen.
Der Türk Talebe Cemiyeti (1960)
Als sich 1960 etliche Studenten aus der Türkei in Hannover zusammentaten, um sich förmlich als Studentenverein an
der TH zu konstituieren, markierte das zum einen, daß die türkische community in Hannover so groß geworden
war, daß sie eine formal legitimierte Interessenvertretung brauchen konnten. Paradoxerweise signalisierte
dieser Schritt zugleich aber auch den Beginn vom Ende der studentisch dominierten Frühphase. Heute, am Ende der
90er Jahre, bilden die Studierenden innerhalb der deutsch-türkischen Minderheit von Hannover nicht nur zahlenmäßig
mit nicht einmal 1,5% eine marginale Größe, auch in der Vereinslandschaft spielen sie nur eine geringe
Rolle.[6] Im Jahre 1960 hingegen war der frischgegründete
Türk Talebe Cemiyeti (dt.: Türkischer Studentenverein) nicht nur die erste und einzige Selbstorganisation
und Vertretung türkischer Staatsbürger in Hannover, sondern gemäß dem Selbstverständnis der Gründer waren sie alle
— ob Studenten oder nicht — automatisch qua türkischer Staatsbürgerschaft „Mitglieder“ des Vereins.
Im Alltag änderte sich allerdings durch die formelle Vereinsgründung sehr wenig. Die Auslandsstudenten in Hannover hatten schon sehr früh die Mensa im „Studentenhaus“ der TH (heute: Theodor-Lessing-Haus) zu ihrem Treffpunkt erkoren, zur Mittagszeit traf man sich in landsmannschaftlichen homogen Grüppchen an festen Punkten in der Mensa. Für die Studierenden aus der Türkei war dies eine Ecke auf der Empore im Hauptspeisesaal:
„Alle ausländischen Studenten, egal wo sie herkamen, trafen sich an besonderen Stellen in der Mensa zum Essen. Wir trafen uns oben auf der Empore in der alten Mensa. Nicht, daß uns dieser Raum gesondert zur Verfügung gestellt worden wäre, sondern wir Türken trafen uns einfach immer bei diesen Sitzplätzen. Mittags traf man halt die Türken da.“
(Auszug aus dem Gespräch mit Ahmet Samsunlu, ehemals Vorsitzender des Türk Talebe Cemiyeti)
Hier lagen auch türkische Tageszeitungen aus, deren Abonnementskosten man sich teilte. Ansonsten traf man sich auch im Georgengarten zum Fußballspielen im Freien und ein bis zweimal im Jahr feierte man größere Feste in den Räumen des Akademischen Auslandsamtes oder Mensa. Dies hatte man schon vor der Vereinsgründung so gehalten und auch ohne formelles Statut genossen die türkischen Studenten bei ihren Aktivitäten beachtliche öffentliche Aufmerksamkeit: Anläßlich einer Feier zum 19. Mai[7] 1957 „erschienen der Rektor der TH, Prof. Dr. Ing. Schlums und der Konsul Izmirli aus Hamburg, Vertreter der Landesregierung, der Wirtschaft und als Vertreter des Oberbürgermeisters, Senator Lehnhoff sowie Generalkonsul Schmelz, Hannover.“[8]
Daß man sich 1960 eine Satzung gab, förmlich einen Vorsitzenden wählte und sich um amtliche Registrierung bemühte, hing letztlich mit der wirtschaftlichen Talfahrt und dem sich daraus ergebenden politischen Umbruch zusammen, welche sich Ende der 50er Jahre in der Türkei anbahnten. Angesichts einer enorm gewachsenen Staatsverschuldung hatte die türkische Regierung 1958 drastischen Maßnahmen zum „Schutz der türkischen Währung“ ergriffen, die vor allem in einem System sehr hoher „Abgabe-Prämien“ auf alle Devisengeschäfte bestanden. In der Praxis kam dies einer Abwertung der türkischen Lira um fast 70% gleich.[9] Zwar befreite eine besondere Ausnahmeklausel[10] den Erwerb von Devisen für den Unterhalt von Studierenden im Ausland von der Abgabepflicht, doch machte ein radikaler währungspolitischer Kurswechsel in der Zeit der Militärregierung nach dem Staatsstreich von 1960 diese Klausel praktisch gegenstandslos.[11] Obwohl später zumindest für die bereits im Ausland befindlichen Studierenden wieder Vorzugstauschkurse eingesetzt wurde, gerieten manche in Finanznot und mußten sich Aushilfsjobs suchen, so auch in Hannover. Durch den Schritt zur Vereinsgründung hoffte man daher vor allem, Hilfen von deutscher Seite einwerben zu können.
„Da hatte man irgendwie gehofft, das war immer das Gespräch, daß man irgendwie auch noch finanzielle Hilfen kriegen könnte. Damals hatte das schon langsam angefangen, einige hatten schon finanzielle Schwierigkeiten.“
(Auszug aus dem Gespräch mit Kemal Poyraz)
Unter den neuen Bedingungen eines drastisch verschlechterten Lira-Kurses wurde ein Studium in der BRD eine kostspielige Angelegenheit. Da gleichzeitig durch staatliche Maßnahmen von deutscher Seite (Feststellungsprüfung, Kolleg-Zwang etc.) der Zugang beschränkt wurde, begann die Zahl der Studien-Neuzugänge aus der Türkei zu sinken.[12] Bundesweit schrieben sich zum Wintersemester 1962/63 nur noch 258 türkische Studenten neu ein, während es zum Wintersemester 1957/58 noch 418 gewesen waren — ein Rückgang um über 60 Prozent. Verglichen mit dem noch dramatischeren Verfall der türkischen Erstsemesterzahlen an der TH Aachen (von 89 auf 8), fiel der Rückgang an der TH Hannover moderat aus. Doch auch hier sank die Zahl der Neueinschreibungen zum WS'62/63 auf 13 (WS'57/58: 20).[13] Da zudem die „Alt-Studenten“, also jene, die noch unter den alten Bedingungen zu Ende studieren durften, nach und nach graduierten oder aus anderen Gründen das Studium beendeten[14], ging die Zahl der türkischen TH-Studenten in Hannover kontinuierlich zurück. 1968 etwa waren es nur noch 42 — denen zu diesem Zeitpunkt bereits gut 2.000 Nicht-Akademiker gegenüberstanden.
Quelle: Statistikstelle der Stadt Hannover und Fußnote 35
Tabelle 3: Relation türkischer Studierendet und türkischer Einwohner insgesamt (1960-1970)
Der Anteil der Studierenden unter den MigrantInnen aus der Türkei in Hannover war somit binnen 7 Jahre von weit über 40 auf gerade noch 2 Prozent gefallen: Die studentisch dominierte, überschaubare und mit vergleichsweise hohem Sozialprestige im hannoverschen Sozialleben versehene community der 50er Jahre hatte sich also in dieser Zeit durch den massiven Zuzug von ArbeitsmigrantInnen in eine „Gastarbeiter“-community mit einer öffentlich kaum noch wahrgenommenen studentischen Randgruppe transformiert.
Der erste Arbeiterverein (1963)
Allerdings — auch wenn so die sich in den 60er Jahren neu in der Stadt etablierenden türkischen
communities vorwiegend durch das frisch eingewanderte Arbeitermilieu geprägt wurden — darf der
Einfluß der Studierenden und späteren Ingenieure, Ärzte, Architekten etc. auf die weitere Entwicklung nicht
unterschätzt werden. Denn anders als in vielen bundesdeutschen Städten hatten diese in Hannover, wie gezeigt
wurde, bereits gut eingespielte Formen der Selbsthilfe und Selbstpräsentation für Zuwanderer aus der Türkei gefunden,
noch bevor der erste sog. „Gastarbeiter“ überhaupt in der Türkei angeworben wurde. Die Neuankömmlinge betraten also in Hannover
keineswegs ‚Neuland‘ und dieser Umstand hatte konkrete Auswirkungen: Als etwa im September 1963 ein „Verein türkischer
Arbeitnehmer in Hannover und Umgebung e.V.“ gegründet wurde, ging die Initiative hierfür nicht von den verstreut in
Wohnheimen in und um Hannover lebenden Arbeitsmigranten, sondern von den Akademikern aus. Immer wieder waren einzelne
Studenten als Orts- und Sprachkundige von Landsleuten um Rat und Dolmetscherdienste gebeten worden. Ahmet Samsunlu,
langjähriger Vorsitzender der Türk Talebe Cemiyeti (TTC) zu Anfang der 60er Jahre, erinnert sich:
„Es gab keine andere Organisation, wenn jemand krank wurde oder Probleme hatte, kam der zu uns.“ Insbesondere ein
bereits in der Praxis stehender Agraringenieur (später einer der ersten türkischstämmigen Touristikunternehmer in
Hannover) beschäftigte sich mit der oft problematischen Lebenssituation in den Arbeiterwohnheimen.
„Zu der Zeit kamen bereits mehrere Türken als Gastarbeiter nach Deutschland. Die waren nicht gut organisiert. Wenn ich Zeit hatte, fuhr ich [...] nach Hannover und da habe ich gesehen, wie schlecht die Türken dort lebten.“
(zusammenfassender Auszug aus dem Gespräch mit Arif Aydoğdu)
Als Herr Aydoğdu von der Gründung des bundesweit ersten türkischen Arbeiternehmervereins in Köln hörte, knüpfte er Kontakte dorthin und brachte so den Stein ins Rollen:
„Ich hörte damals eine Sendung im Westdeutschen Rundfunk, die über Vereinsgründungen überall in Deutschland berichtete. Wir haben daraufhin an die Zentrale der Arbeiterwohlfahrt geschrieben, daß wir in Hannover einen solchen Verein gründen wollen und sie uns besuchen sollen und eine Satzung mitbringen. Und dann haben wir den Verein gegründet.“
(zusammenfassender Auszug aus dem Gespräch mit Arif Aydoğdu)
In anderen Städten, wo Arbeits-, nicht Bildungs-Migranten die Pioniere gewesen waren, verlief die Entwicklung in deutlich anderen Bahnen. Dies ist exemplarisch für die Stadt Bamberg durch ein Forschungsprojekt von Lâle Yalçın-Heckmann dokumentiert worden.[15] Die türkische Migration dorthin begann als reine Arbeiter-community und es waren deshalb auch Arbeiter, die hier ohne äußere Hilfe den ersten türkischen Verein gründeten. Dies geschah 1974 — also 14 Jahre später als in Hannover.[16] Zu einer Herausdifferenzierung einer Art Mittelschicht aus selbstständigen Dienstleistern oder Unternehmern kam es in Bamberg erst mit der Etablierung der zweiten Generation. In Hannover hingegen begannen ehemalige Bildungsmigranten schon in den frühen 60er Jahren, sich mit Dolmetscherbüros oder Ex- und Importläden selbständig zu machen. Die türkischstämmige Bevölkerungsgruppe von Hannover war also von Anfang an deutlich sozial geschichtet und differenziert. Vor und neben den Arbeitsmigranten gab es immer auch eine schmale, aber vielfach tonangebende Schicht von Akademikerinnen, Geschäftsleuten und Ingenieuren.
Anders als in Bamberg, wo der „Verein türkischer Arbeitnehmer“ für einige Jahre praktisch alle Mitglieder der dortigen Arbeiter-community zu einer realen face-to-face-Gemeinschaft zusammenbringen konnte,[17] scheint es in Hannover eine vergleichbare Phase weitgehender sozialer Einheit nicht gegeben zu haben. Dies spiegelt sich auch in den Erinnerungen der Zeitzeugen. Einer von ihnen ist Herr Erdoğan[18], der 1960 als 25jähriger Germanistikabsolvent eigentlich nur für ein Praktikum nach Hannover kam, sich aber später als Dolmetscher dauerhaft hier etablierte. Zum Zeitpunkt seiner Ankunft — also 1960 — war das Verhältnis zwischen Bildungs- und anderen MigrantInnen immer noch annähernd Hälfte/Hälfte: von 186 türkischen Staatsangehörigen in Hannover waren allein 82 Studenten der Technischen Hochschule (siehe Tabelle 2).
Für den vorliegenden Zusammenhang ist es nun interessant, daß Herr Erdoğan, im Gespräch auf die Größe der türkischen community in dieser frühen Zeit angesprochen, ohne zu zögern eine exakte, faktisch aber viel zu niedrige Zahl nannte:
„Also, zunächst waren wir 1960 34 Türken in Hannover. Wir haben uns alle bei der Carl-Duisberg-Gesellschaft getroffen und kennengelernt. Wir waren wie eine große Familie, tauschten uns in allen Belangen aus, so gab's kein Heimweh.“ „Wir waren ungefähr 22 Praktikanten, Studenten und der Rest war mehr oder weniger VW- und Varta-Arbeiter.“
(Auszüge aus dem Gespräch mit Herrn Erdoğan)
Offenkundig bildete der Kreis im Umfeld der Carl-Duisberg-Gesellschaft, in welchem sich Herr Erdoğan bewegte, nur einen begrenzten Teilausschnitt innerhalb der Gesamtgruppe der TürkInnen in Hannover. Herr Erdoğan hatte weder Berührung mit den Mitgliedern der Türk Talebe Cemiyeti, welche sich bekanntlich in Räumen der TH trafen, noch scheint er nicht-akademische Kreise — jenseits seines Zirkels — groß zu Kenntnis genommen zu haben.
Umgekehrt schauten auch die TTC-Mitglieder kaum über den Tellerrand ihrer Vereinigung hinaus. Auch auf hartnäckig wiederholtes Nachfragen konnten sich die befragten Zeitzeugen kaum erinnern, wie denn die andere, die nicht-studentische Hälfte der community ausgesehen habe. Gleichwohl empfanden sich die Aktiven der TTC als Dreh- und Angelpunkt der gesamten community, die im Rückblick — trotz der offenkundigen Zersplitterung in mindestens drei weitgehend voneinander unabhängige soziale Verkehrkreise — als „einheitlich“ erinnert wird.
Dieses Motiv der Betonung der in einer — heute längst vergangenen — Frühzeit stattgehabten „Einheit“ in Abgrenzung zur späterhin eingetretenen „Zersplitterung“ fand sich mehrfach in den Gesprächen mit den Zeitzeugen der 50er und 60er Jahre. In Herrn Samsunlus Darstellung waren es vor allem politische Polarisierungen, die die „Einheit“ zerstörten.
„Damals gab es keine Zersplitterung unter den Türken wie heute. Wir waren auch nicht politisch aktiv. Wir waren einfach Landsleute, die sich zusammengetan hatten.“
(Auszug aus dem Gespräch mit Ahmet Samsunlu)
Herr Erdoğan hingegen bezieht sich auf einen angeblichen ‚Niveauverfall‘, der mit der Massenzuwanderung eingetreten sei. Dies wird besonders deutlich in Passagen, in welchen Herr Erdoğan sich an den „Verein türkischer Arbeiternehmer“ erinnert:
„Der erste türkische Verein war der ‚Türkische Arbeiterverein‘, das muß so 1964/65 gewesen sein. Obwohl wir Akademiker waren und ein Betriebsleben von innen gar nicht kannten, waren wir alle dort Mitglied. Aber wir wollten halt zusammenbleiben und uns hat es nicht gestört.“
(Auszug aus dem Gepräch mit Herrn Erdoğan)
Der Arbeiternehmerverein erschien ihm also als eine Art Verlängerung seiner akademisch geprägten, offenen Gruppe bei der Carl-Duisburg-Gesellschaft, an welcher ja auch schon einige VW-Arbeiter teilgenommen hatten. Überraschenderweise berichtete Herr Erdoğan dann, der Verein sei kurz nach 1967 aufgelöst worden — was nicht den Tatsachen entspricht. Die Ursache hierfür sei der Verlust des familiären Zusammenhalts durch den Zustrom tausender neuer Migranten gewesen.
„Wir waren eine Art Familie mit 34 Mitgliedern gewesen. Aber durch meine Dolmetschertätigkeit [...] habe ich die nachkommenden Türkinnen und Türken kennengelernt, und das waren völlig andere Menschen, Menschen, die ich in der Türkei wahrscheinlich niemals kennengelernt hätte.“
(Auszug aus dem Gepräch mit Herrn Erdoğan)
Herr Erdoğan deutete dann an, daß es vorrangig Menschen mit zwielichtiger Vergangenheit gewesen seien.
„Es waren zwar nicht alle so, die nach 1967 hierher kamen, aber man hat da schon eine Distanz zu denen aufgebaut. Mit denen wollte man privat nichts zu tun haben.“
(Auszug aus dem Gepräch mit Herrn Erdoğan)
In dieser Schilderung reflektiert sich zunächst einmal das Ressentiment der frühen, akademischen Pioniereinwanderer gegenüber den Arbeitsmigranten, durch deren massenhafte Präsenz sie selbst einen drastischen Prestigeverlust in der hannoverschen Öffentlichkeit hinnehmen mußten, wurden sie doch jetzt auf der Straße mit dem ‚Pöbel‘ in einen Topf geworfen und als ungebildete ‚Gastarbeiter‘ verkannt. Ex post verklärt sich so die Zeit vor 1967 — bevor der sprunghafte Zuwachs der türkischstämmigen Einwohnergruppe einsetzte — in Herr Erdoğans Erinnerung zu einer Art „Goldenem Zeitalter“, das er explizit mit der Vorstellung einer einheitlichen „türkischen Kolonie“ zusammenbringt, einer Einheit, die erst durch die Massenzuwanderung gesprengt worden sei. Der Wunschanteil an dieser Vorstellung von Einheit ist offenkundig.
Quelle: Statistikstelle der Stadt Hannover (Stichtag: 31.12.)
Tabelle 4: Bevölkerungsentwicklung der türkischstämmigen Einwohner in Hannover (1965-1975)
Die tatsächliche Geschichte des Arbeitnehmervereins — soweit sie aus öffentlich zugänglichen Akten[19] und Zeitzeugenbefragungen zu erschließen ist — zeigt insgesamt ein anderes Bild. Sie ist zumindest für die 60er Jahre nur auf dem Hintergrund der festen Bindung des Vereins an die Arbeiterwohlfahrt (AWO) richtig zu verstehen. Wegen ihrer Kirchenferne[20] war die AWO 1962 vom Bundesinnenministerium mit der Sozialbetreuung der angeworben ArbeitsmigrantInnen aus der Türkei beauftragt worden.[21] Nachdem ein anfängliches Experimentieren mit ehrenamtlichen Lösungen unbefriedigend verlief, gründete die AWO eine besondere Abteilung namens „Türk Danış“ (dt.: Türkische Beratung), für welche gezielt türkischmuttersprachliche Sozialberater engagiert wurden. 1965 wurde auch in Hannover eine Türk Danış-Beratungsstelle eröffnet, zunächst mit einem zweiköpfigen Team.[22] Die Dienste dieser — zwischenzeitlich auf vier türkischsprachige BeraterInnen angewachsenen — Einrichtung werden auch heute noch oft und ausgiebig von Mitgliedern der deutsch-türkischen Minderheit in Anspruch genommen.[23] In der Zeit bis zur Professionalisierung 1965 versuchte jedoch auch die AWO Hannover — trotz ihrer Zuständigkeit auch für ein weites Einzugsfeld um Hannover herum — sich mit der Förderung von ehrenamtlicher Selbsthilfe unter den ArbeitsmigrantInnen zu behelfen. Deshalb nahm die AWO Arif Aydoğdus Initiative zur Gründung eines Arbeitervereins von Anfang an unter ihre Fittiche. Wie stark man sich in die Vereinsangelegenheiten einmischte, zeigte sich schon in dessen Gründungsphase: Der gesamte Schriftverkehr mit dem Vereinsregister wurde vom Vorsitzenden der AWO Hannover geführt, wie auch die ersten Sitzungsprotokolle des Vereins von ihm gegengezeichnet wurden. Darüber hinaus wurde mit Veysi Baykal ein Mann zum Vereinsvorsitzenden gewählt, der praktisch als Statthalter der AWO fungierte. Später wurde er auch der erste festangestellte türkischsprachige Sozialberater der AWO in Hannover.
Das Vorgehen der hannoverschen AWO entsprach ziemlich genau den Vorgaben, die von der Bundeszentrale in Bonn kamen: Unter Berufung auf die Prinzipien der Hilfe zur Selbsthilfe sollten die AWO-Ortsgliederungen vorrangig die Gründung von türkischen Arbeitervereinen unterstützen.[24]
„Wir haben deshalb türkische Arbeitnehmer angeregt, sich in Gruppen und Vereinen zusammenzuschließen, um diese Werte zu pflegen und darüber hinaus Formen der Selbsthilfe zu entwickeln. Von Köln aus, wo der erste Verein dieser Art entstand, hat der Gedanke schnell um sich gegriffen. [...] Diese [Vereine] sind die Schiene, über die die kulturelle Betreuung abgewickelt wird. [...] Auf jeden Fall haben die Vereine bisher die Funktion erfüllt, Mittler zwischen uns und den türkischen Arbeitern zu sein.“ (Auszug aus einer offiziellen Stellungnahme eines AWO-Funktionärs)[25]
In der Praxis lief dies aber vor allem darauf hinaus, sich einen kostengünstigen Transmissionsapparat für eine Betreuungsarbeit zu schaffen, für welche den Ortsgruppen meist allein schon die Sprachkompetenz fehlte. Als Vorbild für all die später erfolgten Vereinsgründungen diente der im vorstehenden Zitat erwähnte „Verein türkischer Arbeitnehmer in Köln e.V.“, welchen der frisch gekürte Leiter der „Zentralstelle für Beratung und Förderung türkischer Arbeiter“ bei der AWO-Hauptstelle in Bonn selbst als Gründungsvorsitzender initiiert hatte.[26]
In Hannover wollte dieses Konzept allerdings nicht so recht klappten. Bereits im April 1964 hatte sich soviel Unmut über die Arbeit Baykals im Vorstand des Vereins aufgestaut, daß dieser — nach nur sechs Monaten Amtszeit — auf einer Vollversammlung nach heftiger Kritik abgesetzt wurde. Der damalige Vorsitzende des Türk Talebe Cemiyeti mußte als neutraler Interimsvorsitzender einspringen, um die Erregung über die angebliche Selbstbereichung und Willkür Baykals zu beschwichtigen. Auch danach blieb ein gereiztes Klima für die Arbeit des Vereins auf Dauer bestimmend. Beschlußunfähigkeit wegen mangelnder Anwesenheit sowie Vorwürfe und Anschuldigungen gegen die jeweiligen Vorstände kennzeichneten die Vereinsversammlungen der ersten Jahre. Auch bekämpften sich die beiden Flügel, die sich um die Leitfiguren Baykal und Aydoğdu gebildet hatten, in der Konkurrenz um die Führungsposition heftig. Dies gipfelte 1966 in einem Telegramm an den türkischen Botschafter in Bonn, in welchem die Vollversammlung des Arbeitnehmervereins unter Vorsitz Aydoğdus den Botschafter aufforderte, für die Entfernung Veysi Baykals aus dem Betreuungsdienst der AWO zu sorgen. Im darauffolgenden Jahr jedoch obsiegte wiederum Baykal bei den Wahlen zum Vereinsvorstand, was den Aydoğdu-Flügel dazu veranlaßte, zunehmend eigene Veranstaltungen unter Umgehung der AWO zu organisieren.
Gleichwohl leistete die AWO und ‚ihr‘ Verein in diesen Jahren einen wichtigen Dienst, indem sie den immer zahlreicher in der Stadt lebenden Arbeitsmigranten einen — wenn auch behelfsmäßigen — Treffpunkt abseits des Hauptbahnhofs anbot. Dabei handelte es sich um eine Barracke, die zum Lehrlingswohnheim der AWO am Waterlooplatz gehörte und ungefähr 40 Personen Platz bot.[27] Später — vermutlich im Laufe des Jahres 1968[28] — konnte man in bessere Räumlichkeiten der AWO im Büssingweg 4 umziehen. Diese Begegnungstätte bestand bis Mitte 1973, dann wurde sie von der AWO aufgegeben:
„Die Begegnungsstätte ist am 30.6. d.J. geschlossen worden. Dafür waren zwei Gründe maßgebend, nämlich: 1. Der Bundesverband der Arbeiterwohlfahrt erhielt bisher vom Bund und von der Bundesanstalt für Arbeit Mittel für solche Zwecke. Aufgrund der Sparmaßnahmen wurden dieses Mittel gekürzt, so daß der Bundesverband sich veranlaßt sah, wenig erfolgreiche Begegnungsstätten nicht mehr zu bezuschussen. 2. Nach Auskunft von [...] lohnte es sich auch nicht mehr, weil der Besuch sehr zurückgegangen war und außerdem die Begegnungsstätte abzusinken drohte in einen reinen Gaststättenbetrieb.“
(Auszug aus einer Aktennotiz der Stadtverwaltung vom 25.7.1973)
Auch war die Begegnungstätte in den letzten Jahren ihrer Existenz nur noch formal Sitz des Türkischen Arbeitnehmervereins, da dieser mit Beginn der 70er Jahre aufgrund interner Machtkämpfe praktisch aufhörte zu existieren. Da diese Auseinandersetzungen Teil der mit den 70ern einsetzenden radikalen Politisierung der MigrantInnen aus der Türkei waren, werden sie weiter unten erörtert. Zunächst jedoch soll hier die Analyse der Entwicklung in den 60er Jahren abgeschlossen werden, wobei die Gründung eines Generalkonsulats, die Schaffung des ersten permanenten islamischen Gebetsraumes und das Auftauchen türkischstämmiger Selbständiger im städtischen Handel und Gewerbe hervorzuheben sind.
Überblickt man die Entwicklung in der zweiten Hälfte der 60er Jahre, so kann man vier Einflußzentren innerhalb der Einwanderungsgruppe aus der Türkei identifizieren:
Religiöse Belange hatten in den ersten Jahren der Zuwanderung kaum eine Rolle gespielt. Zwar war auch die Türk Talebe Cemiyeti in den 60er Jahren dazu übergegangen, zumindest an den höchsten islamischen Feiertagen (Kurban- und Şeker-Bayramı; dt.: Opfer- und Zuckerfest) die erforderliche religiöse Gebetszeremonie zu organisieren, doch hatte es damit sein Bewenden.
„Unter den Studenten war das so... Von Bayram zu Bayram haben wir gesagt, wir müssen irgendwie beten. Dann haben wir uns Leute gesucht, die als Imame fungierten. Unter den Arbeitern haben wir meistens jemand gefunden, dann haben wir irgendwo einen Raum gemietet und dann haben wir unser Bayramgebet gemacht. Dann war das für uns schon erledigt.“
Auszug aus dem Interview mit Kemal Poyraz)
Das Bedürfnis nach einem festen Ort für gemeinschaftliche Gebete, also nach einer regelrechten Moschee, kam aus dem Milieu der Arbeitsmigranten. In der Literatur wird allgemein darauf hingewiesen, daß die Etablierung von Moscheen (und Koranschulen) ein typisches Phänomen der Phase des „Familiennachzuges“ gewesen sei, eine Phase, die man üblicherweise mit dem Anwerbestop von 1973 beginnen läßt.[32] Erst in dieser Zeit seien Frauen und Kinder in so großer Zahl aus der Türkei in die BRD gekommen, daß die Sorge für ein geregeltes Gemeindeleben auch in religiöser Hinsicht unabweislich geworden sei.[33] Legt man diese Periodisierung zugrunde, scheint die Gründung einer ersten hannoverschen Moschee bereits im Jahr 1969 eine Abweichung von der Regel darzustellen. Wenn man aber berücksichtigt, daß bereits Ende 1966 fast 150 Kinder und Jugendliche (0-15 Jahre) aus der Türkei in Hannover lebten, wird klar, daß die Einteilung der Zuwanderung in verschiedene Phasen nicht zu schematisch gesehen werden darf.[34]
Tatsächlich soll es sogar noch vor der Einrichtung des Gebetsraumes in der Körnerstraße verschiedene Anläufe gegeben haben, Räume für religiöse Zwecke zu mieten, doch keiner davon sei von Dauer gewesen. Die Anfänge für die letztlich erfolgreiche Initiative in der Körnerstraße müssen mehrere Jahre vor der förmlichen Gründung des Vereins am 27. Oktober 1969 liegen, ein Vereinsvertreter erklärte gegenüber der Stadtverwaltung sogar, man habe den Gebetsverein schon 1966 gegründet.[35] Auch die Anmietung der Räume in der Körnerstraße 5 erfolgte bereits ein halbes Jahr vor der offiziellen Vereinsgründung, nämlich zum 1. April 1969.[36] Es handelte sich hierbei um drei kleine Räume, die eigentlich als Lagerräume gedacht waren und von den Mitgliedern in Eigenarbeit für den neuen Zweck hergerichtet werden mußten. Wegen der geringen Größe — alle drei Räume zusammen hatte gerade 65 m² — platzte der Keller anläßlich der Bayramgebete aus allen Nähten: Eine Anwohnerin berichtete, während des Ramadan haben die Schuhe der Gläubigen fein säuberlich auf dem Bürgersteig nebeneinander aufgereiht die Straße herunter bis zum Haus Nr.8 gestanden, weil es dafür in den Räumen selbst keinen Platz gegeben habe.
Betrachtet man die Zusammensetzung der Gründungsversammlung (sechs Arbeiter, ein Student) wie auch den Stamm der späteren Aktivisten, so scheint es gerechtfertigt, den Gebetsverein als erste echte Eigeninitiative aus dem Milieu der Arbeitsmigranten zu interpretieren. Die führende Persönlichkeit war der Arbeiter İdris Alacalı, welcher bis heute in der rechts-islamistischen Szene tätig ist. Dieser Verein bekam in seinen Anfangsjahren von keiner Seite Hilfestellung, erst ab 1973 lassen sich Verbindungen zum Konsulat nachweisen. Daß die Gründung dieses Vereins zu einem dauerhaften Erfolg wurde — zeitweilig wies er über 250 Mitglieder auf —, ist auch Ausdruck der sprunghaften Entwicklung der türkischen Bevölkerungsgruppe in quantitativer wie qualitativer Hinsicht: Ihre Zahl vervierfachte sich zwischen 1968 und 1972 und erreichte im Jahr darauf bereits die Zehntausender-Marke. Gleichzeitig veränderte sich die Zusammensetzung dieses Bevölkerungssegments dramatisch. War das Wachstum der türkischen Bevölkerungsgruppe in Hannover bis 1968 immer direkt proportional zum Anstieg der türkischen[37] Beschäftigten in der Stadt verlaufen, was im Klartext heißt, daß der Zuwachs fast ausschließlich durch Anwerbung von Arbeitskräften bewirkt wurde, entwickeln sich ab 1969 die Beschäftigtenzahl und die Einwohnerzahl auseinander, so daß 1973 erstmals weniger als die Hälfte der Einwohner aus der Türkei beim Arbeitsamt Hannover als abhängig erwerbstätig gemeldet war.[38]
Quelle: Statistische Vierteljahresberichte und Statistikstelle der Stadt Hannover
Tabelle 6: Türkische Einwohner und Beschäftigte (1965-1975)
Die Ursache hierfür war bekanntlich der vom Gesetzgeber ausdrücklich erlaubte Nachzug von Familienmitgliedern, der auch dafür sorgte, daß das kraße zahlenmäßige Mißverhältnis zwischen Frauen und Männern sich allmählich abmilderte.[39] Der Familiennachzug war gleichzeitig auch dafür verantwortlich, daß der 1973 von der Bundesregierung verkündete „Anwerbestop“ zwar wie beabsichtigt zu einer einstweiligen Senkung der Zahl türkischer TeilnehmerInnen am Arbeitsmarkt der BRD führte, aber ohne Einfluß auf das Anwachsen der Zahl der EinwohnerInnen mit türkischen Paß blieb. Diese bundesweit festzustellende Entwicklung spiegelte sich auch in Hannover, wie sich an Tabelle 6 gut nachvollziehen läßt.
Die „ethnische Ökonomie“ — ein dornenreicher Markt
Die stetige zahlenmäßige Expansion der türkischen Diaspora in Hannover machte es möglich, daß eine nach und nach wachsende Zahl
von türkischstämmigen Dienstleistern sich auf die besonderen Bedürfnisse dieser Klientel spezialisierte. Schon Mitte der 60er J
ahre entstanden erste Büros, die Reisetickets verkauften und Export/Import-Geschäften mit der Türkei abwikelten. Die 1964 erstmals
in Erscheinung getretene Firma „Bürotex Export-Import GmbH“ dürfte der Vorreiter gewesen sein, ihr Inhaber war Dipl.Ing. Erol Celikoğlu,
also ein Mitglied der Gruppe der 50er-Jahre-Studenten.[40] 1967 tummelten sich
schon fünf Anbieter (darunter auch Mitglieder der Familie Baykal) auf dem Export-Import-Sektor. Allerdings läßt die eher kurze
Lebensdauer dieser Gründungen erkennen, daß das Marktsegment damals noch kaum tragfähig war. Ebenfalls im Jahr 1967 eröffnete das
erste türkische Restaurant in Hannover: das „Bosporus“ in der Königsworther Straße 32.[41]
Zahlreiche Besitzerwechsel in den nachfolgenden Jahren zeugen jedoch davon, daß auch dieser Geschäftsinitiative nicht viel Erfolg
beschieden war. Offenbar hatte das, was man heute in der Literatur gern „ethnische Ökonomie“ nennt, während der 60er Jahre eher
den Charakter des Nebenverdienstes. Ein typisches Beispiel hierfür war das Geschäft mit türkischsprachigen Kinofilmen, das zeitweilig
so gut lief, daß von Hannover aus 15 verschiedene Kinos auch in anderen Städten wie Hamburg, Hildesheim, Salzgitter und Bremen
mit türkischsprachigen Sondervorstellungen bespielt wurden.[42]
Das durchaus gewinnträchtige Unternehmen mit der sonntäglichen Unterhaltung für die ArbeitsmigrantInnen aus der Türkei wurde von
einem türkischen[43] Arbeiter in seiner Freizeit organisiert, anfänglich
halfen ihm auch die damals noch angehenden Ingenieure Poyraz und Samsunlu dabei.[44]
So wie sie versuchten auch andere, durch Nutzung ihrer Kontakte in die Türkei kommerzielle Nebeneinkünften zu erzielen, doch konnte
offenbar kaum einer allein davon leben.
Nur im Bereich des Schneiderhandwerks sahen die Verhältnisse anders aus: Hier gelang es türkischen, griechischen und anderen MigrantInnen — bei entsprechenden Kenntnissen — mit eigenen Nähstuben der etablierten deutschsprachigen Konkurrenz einen rasch wachsenden Teil des Marktes abzunehmen. Zwar durften sie sich nicht „Schneidermeister(in)“ nennen, sondern wurden unter der abwertenden Bezeichnung „Flickschneider(in)“ geführt, doch zeigt der Ende der 60er Jahre einsetzende Gründungsboom, daß sie gleichwohl ihre Kunden fanden: Der erste von einer Migrantin aus der Türkei betriebene Schneiderbetrieb findet sich 1966 im städtischen Adreßbuch, 1968 sind es drei, 1970 schon neun, 1972 18 und 1973 schließlich 22.[45]
Zwar sind auch in diesem Bereich anfänglich Akademiker bzw. deren Ehegatten aktiv gewesen, doch das Gros der Neugründungen stammt hier offenkundig aus dem Milieu der ArbeitsmigrantInnen. Da auch heute noch die weitaus größte einzelne Gruppe der türkischstämmigen Selbständigen im Schneiderhandwerk aktiv ist, erfährt die weiter oben getroffene Aussagen, daß das ursprünglich akademische Milieu bei der Gründung von Geschäften eine Führungsrolle innehatte, eine wichtige Korrektur.
Im Handel mit Reisetickets rollte die nächste Welle von Geschäftsgründungen an. 1970 gab es bereits zwei türkische Reisebüros in Hannover, eines davon von Veysi Baykal geführt. 1972 waren es vier, ein Jahr später gab es bereits acht. Eines davon wurde von Raif Türk in der Sodenstraße betrieben. In seiner sehr wechselvollen beruflichen Karriere kondensieren sich typische Muster für die Lebensgeschichte vieler MigrantInnen seiner Generation: Herr Türk kam 1967 nach Hannover und arbeitete als gelernter Maurer auf dem Bau. Ende des Jahres 1969 erfuhr er davon, daß ein anderer Migrant aus der Türkei mit der Gründung eines Lebensmittelgeschäftes in der Sodenstraße gescheitert war. Herr Türk übernahm die Räumlichkeiten und machte ein kombiniertes Reisebüro und Export/Import-Geschäft daraus. Parallel dazu arbeitete er aber auch weiterhin auf dem Bau. Als 1974 die Preise für Flugtickets in die Türkei stark verfielen, ging sein Laden pleite. Herr Türk stieg daraufhin in das Geschäft mit den türkischen Kinofilmen ein und organisierte 1975-76 türkischsprachige Sondervorstellungen in Bremen und Hannover. Doch mit dem Videorekorderboom verschwand das Publikum und so mußte Herr Türk zurück auf den Bau. 1982 stieg er gemeinsam mit einem Partner erneut in die Selbständigkeit ein und eröffnete im Stadtteil Linden ein Lebensmittelgeschäft, das aber nach einem Jahr schon wieder aufgegeben werden mußte. Herr Türk versuchte sich daraufhin mit einem Imbiß in Burgdorf — dieses Mal zwang ihn eine schwere Operation zur Aufgabe. Heute hilft Herr Türk, durch Krankheit zum Frührentner geworden, nur noch im Reisebüro seines Schwiegersohnes aus. Doch die Geschäfte liefen allgemein schlecht, so seine Klage, da es entschieden zuviele türkische Reisebüros in Hannover gebe, die sich einen ruinösen Preiswettbewerb lieferten.
Der Weg in die Selbständigkeit war und ist nicht nur für Herrn Türk, sondern für ArbeitsmigrantInnen insgesamt außerordentlich dornig. Wenn es heute trotzdem zwischen 500 und 1.000 türkischstämmige Selbständige in Hannover gibt, so liegt das vor allem an der überproportionalen Betroffenheit durch Arbeitslosigkeit in der Gruppe der Türkischstämmigen in Relation zu Gesamtbevölkerung des Arbeitsamtbezirks Hannover. Dies sollte beim heute so häufig zu hörenden euphorischen Gerede über das Entstehen einer neuen Mittelschicht unter den Türkischstämmigen nicht vergessen werden.[46]
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Inhaltsverzeichnis
Hinweis des Autors
Der vorliegende Text wurde 1999 als Abschlussbericht des Projekts „Gemeindestrukturbildung und ethnisches/religiöses
Protestpotential bei türkischstämmigen Migrantinnen und Migranten in Niedersachsen“ an die Förderinstitution fertigestellt
und seither nicht publiziert. Die hier vorliegende Onlinefassung von 2021 stellt somit die Erstveröffentlichung dar.
Das Copyright liegt beim Autor.
Fußnoten