Nationalismus in Kurdistan (1993)
Kernpunkt der Malaise des Osmanischen Reiches war — wie schon erwähnt — die strukturelle Unterlegenheit des osmanischen Militärs gegenüber den neuen Infanterie- und Artilleriestreitkräften der europäischen Mächte.[1] Verlorene Kriege gegen das Habsburger Reich waren es auch gewesen, die die Pforte zu den ungünstigen Friedensverträgen von Karlowitz (1699) und Passarowitz (1718) gezwungen hatten. Während der „Frieden von Karlowitz“ große Gebietseinbußen (Verlust Ungarns) mit sich brachte, mußte die relative Mäßigung der Habsburger in Passarowitz u.a. mit dem Abschluß eines Freihandelsvertrages erkauft werden, was beides zusammen langfristig bedeutende Veränderung nach sich ziehen sollte, bzw. schon in Gang befindliche Veränderungen beschleunigte.[2]
Waren die osmanischen Mittelmeerhäfen für die europäischen Kaufleute des 15. und 16. Jahrhunderts noch die wichtigsten Quellen für die begehrten Luxusgüter aus dem Mittleren und Fernen Osten wie Seide oder Gewürze gewesen, verloren sie diese Vorzugsstellung zunehmend, nachdem die im 17. Jahrhundert neu etablierten Seerouten den Europäern den profitabeleren Direktimport ermöglichten.[3] Als im 18. Jahrhundert der osmanische Exporthandel sich trotzdem auszuweiten begann, beruhte der Zuwachs nicht mehr auf der klassischen Produktpalette, sondern auf einem schwunghaften Handel mit osmanischen Massengütern wie Vieh, Getreide und Rohbaumwolle. Dabei entwickelte sich Österreich-Ungarn in Folge von Passarowitz zu einem Haupthandelspartner — zu Land und zu Wasser, denn seitdem Triest und Rijeka im Jahre 1719 zu [– S.126 –] Freihäfen erklärt worden waren, stieg Österreich-Ungarn zu einer Handelsmacht im östlichen Mittelmeerraum auf.
„Die neuen Textilfabriken in Österreich, Sachsen, Preußen und in der Schweiz benötigten die Wolle und Baumwolle aus Makedonien und Thessalien, und die steigende französische, deutsche und italienische Nachfrage sorgte für eine Verdreifachung der Baumwollproduktion Makedoniens zwischen 1720 und 1800. Die österreichischen Einfuhren an Rohbaumwolle aus Makedonien und Thessalien steigerten sich von einer zu vernachlässigenden Menge in den 20er Jahren des 18. Jahrhunderts bis auf geschätzte 1 360 000 Gulden im Jahre 1752. 1766 machte allein die auf dem Landwege nach Österreich importierte Baumwolle vom Balkan 1 900 000 Gulden aus. 1771 hatten die österreichischen Importe an Wolle und Baumwolle — nur auf dem Landwege — einen Wert von fünf Millionen Gulden.“ „Makedonien und Thessalien [...] exportierten in der zweiten Hälfte des Jahrhunderts 40% ihres Getreides und mehr als die Hälfte ihrer Baumwoll- und Tabakproduktion.“[4] (meine Übers.; engl. Original)
Es ist nicht überraschend, den Stoff, aus dem die „Industrielle Revolution“ gemacht werden sollte, die Baumwolle, an erster Stelle erwähnt zu sehen. Nicht nur Mitteleuropa verlangte nach osmanischer Baumwolle, die Manufakturen von Lancashire etwa verarbeiteten einen wachsenden Anteil der Baumwollproduktion der Region von Izmir[5], und auch die französische Konkurrenz verließ sich zunehmend auf osmanische Rohstoffimporte.[6]
Die Umorientierung von der Versorgung der osmanischen Reichshauptstadt und der Regionalzentren auf den europäischen Exportmarkt, die sich z.B. darin ausdrückte, daß osmanische Bauern in Serbien begannen, Schweine für den Bedarf der österreichischen Städte zu züchten[7], wirkte sich jedoch in größerem Maßstab zunächst nur auf dem Balkan aus sowie in vereinzelten Regionen Kleinasiens, die von den Häfen an der Mittelmeerküste aus leicht zu erschließen waren. Eine flächendeckende Umstrukturierung der Reichsökonomie war jedoch ausgeschlossen, solange das Schwarze Meer durch das Schiffahrtsmonopol der Osmanen eine Art ‚Binnenmeer‘ des Reiches blieb[8], denn der hochprofitabele Handel im Schwarzen Meer bildete das eigentliche Rückgrat der traditionellen Warenstrommuster.[9]
[– S.127 –]Erst unter den immer neuen Vorstößen des Zarenreiches, das einen Zugang zum Mittelmeer zu erobern suchte, zerbrach dieses Monopol. Das Jahr 1711 steht für den letzten militärischen Triumph der Pforte über den neu erwachsenen Gegner im Norden, 1739 konnte eine schwere Niederlage auf dem Schlachtfeld durch erfolgreiche diplomatische Manöver noch einmal abgefangen werden, danach führte jede weitere Konfrontation nur noch zu Niederlagen, zu neuen Gebietsverlusten und demütigenden ‚Friedens‘-Verträgen. Hervorzuheben ist besonders der Vertrag von Küçük Kaynarca (1774), mit dessen Artikel 11 freier Zugang für russische Schiffe zum Schwarzen Meer und Handelsfreiheit für alle russischen Untertanen im Osmanischen Reich festgelegt wurden.[10] Wirklich effektiv wurden diese Regelungen allerdings erst mit dem Verlust der gesamten Nordküste des Schwarzen Meers an das Russische Reich, den die Pforte im „Frieden von Jassy“ (1792) endgültig akzeptieren mußte.[11] Mit der Ausweitung der Schiffahrtsfreiheit auf England (1799) und Frankreich (1802) erodierte die Wirtschaftsautonomie des Reiches weiter Stück für Stück.[12] Zu Beginn des 19. Jahrhunderts war das Osmanische Reich somit — wenn auch höchst unfreiwillig — auf dem Weg, eine Art ‚Freihandelszone‘ zu werden.
Die Integration in den entstehenden kapitalistischen Weltmarkt war aber nicht nur eine Folge äußerer Interventionen. Die klassisch-osmanische Gesellschaftsordnung war längst schon an primär internen Widersprüchen zerbrochen und in Gärung begriffen, so daß der Eingriff von außen keineswegs auf eine statische Formation traf, um sie zu zertrümmern, vielmehr kanalisierte er bereits aktive Veränderungskräfte in eine bestimmte Richtung.[13] Eine gewichtige, nicht von außen bewirkte Veränderung war z.B. die Ersetzung der durch ihre Konspiration mit Petersburg (1711) in Ungnade gefallenen „Hospodare“ (slaw.: „Herr“) [– S.128 –] in den Vasallenfürstentümern Moldau und Wallachei durch sultanstreue Phanarioten, die als loyale Subherrscher der fortschreitenden Separierung der von alters her selbständigen Donauprovinzen ein Ende setzen sollten.[14] Die Pforte ließ damit aus wohlverstandenem Eigeninteresse erstmals griechisch-orthodoxe Notabeln ohne Konversion zum Islam in wirklich entscheidende Herrschaftspositionen a ufrücken. Zur Festigung ihrer neugewonnenen Machtstellung nahmen diese Herren selbstverständlich alle verfügbaren Posten und Pöstchen mit Männern ihrer eigenen Klientel in Beschlag; demselben Zweck diente eine systematische Förderung griechisch-orthodoxer Gelehrter und Händler.[15] Ihre Regierungssitze Jassy und Bukarest wurden in der Folge neben Istanbul zu den wichtigsten christlichen Macht-, aber auch Bildungszentren im Osmanischen Reich.
Als das Zarenreich in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts mit seiner gezielten Protektion für griechisch-orthodoxe Schwarzmeerreeder begann, traf diese Maßnahme also auf eine prosperierende Kaufmannsschicht, die teilweise durchaus schon Protektion besaß. Auch in anderen Fällen konnten externe Stimuli letztlich nur durch vorgängige interne Umbrüche wirksam werden. So ist der Grund dafür, daß auf die erhöhte Absatzmöglichkeit für osmanische Landwirtschaftsprodukte auch tatsächlich erhöhte Exporte folgten, vor allem in der Herrschaft der ayan über weite Teile der Balkanprovinzen zu suchen. Dank ihrer Machtfülle verfügten die ayan zum einen über die erforderliche straffe Kontrolle der Produktion auf ihren çiftlik-Gütern, um eine Reduzierung der Selbstversorgungsproduktion zugunsten des Anbaus exportierbarer Produkte zu erzwingen[16], zum anderen konnten sie es wagen, diese Sondererträge an der Pforte vorbeizuschmuggeln; beides wäre unter den Bedingungen des alten timar-Regimes, das auf der bloßen Mehrproduktabschöpfung weitgehend autonom wirtschaftender Subsistenzeinheiten durch großherrlich bestallte Tributeintreiber beruhte, undenkbar gewesen.
Allerdings war das çiftlik-System nur solange profitabel, wie die ayan ihre außerökonomische Kontrolle über die Absatzmärkte geltend machen konnten. Das ungehinderte Auftreten von europäischen Aufkäufern und Anbietern ab dem 19. Jahrhundert mußte die Gutswirtschaft der ayan daher einer Konkurrenz aussetzen, gegen die sie sich mit den ihr eigenen Formen nicht behaupten konnte, denn die europäischen Mächte verfügten über den weit längeren Arm, wenn es um die Einflußnahme auf die Zentralgewalt ging. Nichts demonstriert diese Überlegenheit deutlicher als der britisch-osmanische Handelsvertrag von [– S.129 –] 1838, durch dessen Artikel II sämtliche Monopolrechte der ayan null und nichtig wurden, womit die Europäer der lästigen Konkurrenz den endgültigen Todesstoß versetzten.[17]
Während des ganzen 18. Jahrhunderts jedoch war die Macht der ayan politisch-militärisch ungeschmälert, ja wuchs gegen Ende des Jahrhunderts sogar noch, da die Pforte, in verlustreiche Kriege mit Österreich-Ungarn und Rußland verwickelt, jede Konfrontation im Inneren vermeiden mußte, um den Nachschub an Menschen und Material aus den Provinzen nicht zu gefährden.[18] Zwar handelte es sich bei den von den ayan zu Verfügung gestellten Hilfstruppen eher um lose Haufen bezahlter Büttel, die noch weniger als die undisziplinierten Janitscharentruppen in der Lage waren, den hochgerüsteten gegnerischen Berufsarmeen zu widerstehen, aber ohne diese Verstärkung des stehenden Heeres bestand überhaupt keine Aussicht, sich gegen die ständigen ausländischen Angriffe zu behaupten.[19] Die Aneignung der Verfügungsgewalt über die Provinzen durch die ayan raubte der Zentralgewalt jedoch genau die Revenuen, die sie zur Modernisierung der Armee benötigt hätte. Die Pforte befand sich somit in einem Teufelskreis: Solange die Armee schwach blieb, konnte die Unbotmäßigkiet der ayan nicht gebrochen werden, und zugleich war man auf die Kooperation nämlicher ayan angewiesen, damit aus der Schwäche der Armee nicht der völlige Untergang des Reiches erwuchs. Solange aber die ayan den Zufluß der regionalen Revenuen in die zentrale Staatskasse nach Gutdünken regulierten, war keine schlagkräftigere Regierungsarmee aufzubauen.[20] Hinzu kam das Mißtrauen der Janitscharenführung gegenüber jeder Neuerung; der zu reformeifrige [– S.130 –] Sultan Selim III. wurde von ihnen im Jahre 1807 sogar ermordet, um die von ihm eingeleiteten zaghaften Militärreformen zu Fall zu bringen.[21]
Es waren die ayan, die dieser Rebellion schließlich ein Ende setzten und Mahmud II. auf den Thron brachten, der als Preis für ihre weitere Unterstützung die de facto-Herrschaft der ayan im sog. „Sened-i İttifak“ („Dokument der Einhelligkeit“) auch de jure akzeptieren mußte.[22] Das dadurch — sozusagen en passant — mit legitimierte çiftlik-System war derweil sowohl in Anatolien, vor allem aber auf dem Balkan weit verbreitet und sorgte für eine erhebliche Bedrückung der betroffenen Landbevölkerung.[23]
Allerdings darf man nicht außer Acht lassen, daß die Verhältnisse allein schon aufgrund der schieren Ausdehnung im Reich nicht überall gleich waren. Kurdistan wurde, wie schon geschildert, keineswegs nur von ayan regiert, die Fürstentümer Moldau und Wallachei unterstanden einer christlichen Herrenschicht, auf dem Peloponnes gab es neben muslimischen ayan ebensoviele oder sogar mehr christliche Lokalpotentaten, in Serbien hatten sich vielerorts autonome bäuerliche Dorfgemeinschaften behaupten können, etc. etc. Wenn es also heißt, daß die klassische Sozialordnung zerfallen war, dann bedeutet das auch, daß wer immer in der Lage war, vor Ort effektiv Macht auszuüben, über kurz oder lang von der Pforte anerkannt, oder besser gesagt, in das ‚Nullsummenspiel‘ des divide-et-impera einbezogen wurde. Wo die Umstände die Zahl der entsprechenden muslimischen Anwärter dezimiert hatten — wie z.B. auf dem Peloponnes, der erst 1715 nach gut dreißig Jahren venezianischer Besetzung zurückerobert worden war —, konnten sich eben auch einflußreiche christliche Notabeln zu de facto-Großgrundbesitzern aufschwingen.[24] Das weit verbreitete Sozialrebellentum lieferte zusätzliche Anwärter für solche Karrieren, denn einige der Rebellenführer, die mit ihren Banden aus christlichen Ex-reaya von Fluchtorten in den Bergen zu Razzien auszogen, konnten es durchaus zur Errichtung kleiner Gebietsherrschaften bringen.
[– S.131 –]Auf's Ganze betrachtet hatte sich die Lage der abhängigen Bauernschaft aber zweifellos durch die planlose Deregulierung des osmanischen Systems verschlechtert. Das soziale Elend der unteren Schichten wurde zudem dadurch verschärft, daß nach den Gebietsverlusten in Ungarn und später an der Nordküste des Schwarzen Meeres Muslime in großer Zahl vor der christlichen Herrschaft flüchteten und im Restreich notfalls mit Gewalt nach Land und Auskommen suchten. Vor diesen Zuständen flohen orthodoxe Bauern zu Zehntausenden aus dem Osmanischen Reich nach Ungarn, u.a. um einem Kolonisationsaufruf zu folgen, den die Habsburger unter Zusicherung von Religionstoleranz zur Beschleunigung der Neubesiedlung der verödeten Regionen ihrer neu eroberten Besitzungen erlassen hatten.[25]
Es gab aber auch ganz andere Entwicklungen: Dank ihrer Kenntnisse und Verbindungen in beiden Systemen traten etliche der in großer Zahl sowohl in Ungarn als auch auf der Krim befindlichen, ehemals osmanischen Christen erfolgreich als Mittler des wachsenden Handels der christlichen Staaten mit dem Osmanischen Reich auf. In Ungarn waren es vor allem ehemalige Flüchtlinge aus Serbien, die einen großen Teil des Handels mit osmanischen Gütern abwickelten, später wurden sie von anderen griechisch-orthodoxen Großkaufleuten aus den osmanischen Zentren überflügelt.[26] Das Zarenreich bemühte sich seinerseits, seekundige orthodoxe Christen aus dem Osmanischen Reich anzulocken, um seine neu ausgebauten Schwarzmeerhäfen Sewastopol, Odessa, Cherson und Taganrog zu beleben.[27] In diesen Städten blühten daher ebenfalls griechisch-orthodoxe Händlerkolonien osmanischer Herkunft auf, die glänzend am Schwarzmeerhandel verdienten. Dies korrespondierte im Inland mit den Auswirkungen der Phanariotenherrschaft in den Donaufürstentümern, die in Form protektionistischer Erlasse und anderer ökonomischer Förderungsmaßnahmen ihren Teil dazu beitrugen, den Exporthandel mit osmanischen Gütern zu einer exklusiv christlichen Domäne zu machen.
Als Ergebnis des Zusammentreffens äußerer und innerer Protektion sowie neuer Vermarktungschancen durch eine Veränderung der globalen Kräfteverhältnisse erwuchs somit im griechisch-orthodoxen millet eine neue, kommerziell orientierte Mittelschicht, deren Mitglieder zu Beginn des 19. Jahrhunderts in allen wichtigen Handelsstädten des In- und Auslands (Amsterdam, Triest, Marseille etc.) Niederlassungen unterhielten. Während große Teile ihrer bäuerlichen millet-Genossen von ‚offiziellen‘ Steuereintreibern, ‚illegalen‘ ayan, plündernden Janitscharen und sonstigen Empörern zugleich bedrängt wurden und durch die doppelt und dreifache Besteuerung in eine immer schwierigere Lage gerieten, [– S.132 –] setzte die aufstrebende städtische Händlerschicht ihren Reichtum und ihre guten Kontakte zu den überall im Reich aus dem Boden schießenden Konsulaten der westlichen Mächte dazu ein, sich eine Verbesserung des sozialen Status zu erkaufen. Unter exzessiver Ausnutzung eines Privilegs, das Botschaftern und Konsuln ausländischer Mächte gewährt worden war, nämlich durch Ausstellung eines berats („Urkunde“) einzelne osmanische Untertanen als Schutzbefohlene quasi in den eigenen Haushalt — der natürlich Immunität genoß — zu ‚adoptieren‘, verhalfen allein die österreichisch-ungarischen Konsulen Zehntausenden osmanischen Christen in den Fürstentümern Moldau und Wallachei zur Befreiung von allen Steuern oder Abgaben. Außerdem entzogen sich die Besitzer eines solchen berats der Gerichtsbarkeit des Sultans, da sie nun nach den Gesetzen der Schutz gewährenden ausländischen Macht behandelt werden mußten.[28]
Um ihre Stellung als urbane pressure group weiter zu verbessern, investierten sie auch in den Aufbau eines eigenen Netzes sozialer Institutionen, vor allem Schulen, womit sie zugleich ihren Anspruch auf mehr Einfluß innerhalb der millet-Strukturen dokumentierten. In einem Bericht des preußischen Gesandten von 1819 heißt es über die Entwicklung im griechisch-orthodoxen millet:
„Die Gemeinden und der Handelsstand verwenden mit seltner Freygebigkeit beträchtliche Summen auf die Gründung und Dotirung öffentlicher Schulen [...]“ „Überall bilden sich neue [Lehranstalten, G.B.] nach dem Vorbilde europäischer Universitäten. Die hohen Schulen in Chio und Smyrna zählen allein 1500 Schüler, jene zu Caesarea 500, zwischen 3 a 400 jede der übrigen.“[29]
Die Schule in Chios gehörte wohl zu den bestausgestatteten, dort konnte das komplette Repertoire westlich-humanistischer Bildung angeboten werden: Altgriechisch, Latein, Französisch, Mathematik, Chemie, Physik, Geographie und Philosophie.[30]
Etliche Jahrzehnte vor einer vergleichbaren Entwicklung unter den Muslimen konnten sich so im christlichen Sektor Ansätze einer weltlichen Intellektuellenschicht entwikeln. Parallel hierzu vertiefte sich die allgemeine Entfremdung vom Patriarchat in der Hauptstadt, da dieses unbeirrt fortfuhr, trotz eines gesellschaftlichen Zustands, der innerhalb des millets durchweg als gewaltförmig [– S.133 –] und gesetzeslos erfahren werden mußte[31], getreulich als Subherrscher und Transmissionsriemen des Großherrn bezüglich seiner christlichen Untertanen aufzutreten. Während das orthodoxe establishment, der Hochklerus und die Phanarioten-Clique, selbst in den geheimsten Träumen allenfalls rückwärtsgewandt an die Wiederbelebung des Byzantinischen Reiches dachte[32], orientierte sich die neue Mittelschicht nach Europa, gingen die Söhne der reicheren Kaufleute mit Unterstützung der lokalen millet-Institutionen zum Studium nach Wien oder Paris.[33]
Es kann heute kein Zweifel mehr daran bestehen, daß sich die frühesten Regungen der verschiedenen Spielarten des Balkannationalismus (‚griechisch‘, ‚serbisch‘, ‚rumänisch‘ etc.) hier, unter den Kaufleuten und Studenten im europäischen Ausland, in den Zentren des damaligen Bürgertums entwickelten. Der erste griechisch-nationalistische Geheimbund wurde beispielsweise in Wien (1796) gegründet und bestand, den Akten der Wiener Polizei zufolge, hauptsächlich aus Kaufleuten, einigen Studenten, einem Arzt und einem Zeitungsverleger.[34] Andere Geheimorganisationen ähnlicher Zusammensetzung — eine davon in Paris gegründet — sollten folgen.[35] Das wichtigste Organ der literarisch-kulturellen Bewegung war eine seit 1811 in Wien erscheinende Zeitschrift, die es sich zur Aufgabe machte, die in Paris verfaßten nationalistischen Werke des Adhamantios Korais zu verbreiten.[36] Überhaupt wurden die relevanten Werke, ob literarischen oder politischen Inhalts, ausnahmslos im Ausland — in Venedig, Leipzig, Wien oder Paris — gedruckt.[37]
[– S.134 –]Alle Versuche allerdings, die Vision etwa einer ‚griechischen Nation‘ vom Exil aus zurück unter die griechisch-orthodoxen Bauernmassen der ‚Heimat‘ zu tragen, mußten angesichts einer gesellschaftlichen Realität, die wesentlich von religiösen Kategorien und persönlichen Abhängigkeiten strukturiert war, auf wenig Erfolg stoßen[38], so sehr sie auch von interessierten Großmächten insgeheim gefördert wurden.[39] Zudem scheint wirtschaftlicher Erfolg durch geschäftliche Transaktionen mit europäischen Kaufleuten und dabei anfallende Kenntnis westlicher Kultur allein die Betreffenden nicht automatisch zu glühenden Nationalisten gemacht zu haben, im Gegenteil: Gerade die erfolgreichsten ‚Geldsäcke‘ waren den Nationalisten feindlich gesinnt und schienen ihre Perspektive eher in einem Aufstieg als Bankiers und Berater der muslimisch-osmanischen Elite zu sehen.[40] Das orthodoxe Patriarchat obendrein kämpfte mit aller Härte gegen die vom Ausland eindringende nationalistische Agitation, da es darin zu Recht einen Angriff auf seinen universellen Herrschaftsanspruch erkannte.[41]
Mangels eines gewachsenen thièrs état im Osmanischen Reich war die Resonanz insgesamt minimal. Schließlich waren Gesellschaftsstruktur und Ökonomie des Osmanischen Reiches zu Beginn des 19. Jahrhunderts von kapitalistischen Formen noch sehr weit entfernt. Lohnarbeit ‚freier‘ Arbeiter beispielsweise, d.h. von Menschen, die zwar uneingeschränkt über ihre eigene Arbeitskraft, nicht aber über die notwendigen Produktionsmittel verfügen können, spielte weder in der gewerblichen Güterproduktion noch in der Landwirtschaft eine nennenswerte Rolle. Das çiftlik-System, das dabei war, die Subsistenzwirtschaft im Agrarsektor abzulösen, beruhte auf der Arbeit von Ertragspächtern, die mittels außerökonomischer Gewalt kontrolliert und diszipliniert wurden. Die Produktion gewerblicher Güter hingegen wurde fast ausschließlich in zunftgebundenen, [– S.135 –] kleinhandwerklichen Familienbetrieben vollzogen. Die einzig erwähnenswerte Ausnahme bildete der Rüstungssektor, da Schiffswerften, Kanonengießereien und Waffenmanufakturen als staatliche Großbetriebe organisiert waren, die durch Heranziehung ausländischer Fachkräfte den jeweils modernsten Stand der Produktionstechnik zu erreichten suchten.[42] Dieser Sektor gehorchte jedoch allein der Staatsraison — und nicht einer wie auch immer gearteten ökonomischen Rationalität —, denn der Staat war nicht nur Eigentümer, sondern zugleich auch einziger Kunde dieser ‚Industrie‘. Die hier bewirkten Veränderungen der Produktionsstrukturen blieben daher ohne Auswirkungen auf die gesamtgesellschaftlich vorherrschenden Formen.
Selbst die auf Geldreichtum beruhenden, neuen Mittelschichten auf dem Balkan, welche die einseitige Begünstigung des christlichen Händlertums im Ex/Importgeschäft mit den Europäern hervorbrachte, bildeten kein Bürgertum im Sinne einer Bourgeoisie.[43] Einzig die aus den exklusiven millet-Schulen hervorgegangenen Bildungszöglinge entwickelten ein Interesse für den Aufbau einer nationalen Kultur und Geschichtsinterpretation. Aber selbst hier bedurfte es ausländischer Geburts- und Entwicklungshilfe: Als beispielsweise 1813 die Athener „Gesellschaft der Musenfreunde“ ins Leben gerufen wurde, die sich besonders dem Schutz antiker Denkmäler und der Förderung des Auslandsstudiums widmete, ging die Gründungsinitiative offenbar auf im Osmanischen Reich lebende Briten zurück, der Präsident war zugleich britischer Konsul in Athen.[44]
Die Welle nationalistischer und aufklärerisch-liberaler Publikationen, die vor allem das französische Revolutionsregime auf illegalem und offiziellem Wege (durch die Botschaft in Istanbul) ins Osmanische Reich tragen ließ[45], ist im übrigen auch an den gebildeten muslimischen Kreisen nicht gänzlich spurlos [– S.136 –] vorübergegangen, ihr Erkenntnisinteresse lag allerdings ganz anders. Aufgeschreckt durch die demütigenden militärischen Niederlagen, ging es ihnen hauptsächlich darum, das Geheimnis des europäischen Erfolges zu begreifen, um die Europäer mit ihren eigenen Waffen schlagen zu können.[46] Im Zentrum aller Anstrengungen stand bezeichnenderweise die Erneuerung der Armee: Mit Hilfe zahlreicher ausländischer Berater wurde seit Ende des 18. Jahrhunderts in immer neuen Anläufen versucht, den Kern einer disziplinierten modernen Armee aufzubauen, ja selbst die Einführung industrieller Produktionsprozesse wurde zum Zweck der Rüstungsmodernisierung versucht.[47] Daß im Rahmen dieses Imports westlicher Technologien und Organisationsmodelle zugleich auch Institutionen (die Kadettenschulen) entstanden, die zumindest einer kleinen Schicht von Osmanen Zugang zu einem bürgerlichen Weltverständnis eröffneten, war für die Organisatoren dieser ‚Modernisierung‘ ein unerheblicher Nebeneffekt.[48] Aber gerade hier (und in den neu eingerichteten, ständigen osmanischen Botschaften im europäischen Ausland)[49] entstanden die ersten Ansätze jener modernistisch gesinnten, muslimisch-osmanischen Technokratenschicht, die in der sogenannten tanzimat-Zeit (ca. 1839-1878) tonangebend werden sollte.[50]
Während der ersten beiden Jahrzehnte des 19. Jahrhunderts allerdings mußte diese noch verschwindend kleine Fraktion innerhalb des maroden zentralen Herrschaftsapparates sich ausFurcht vor dem Zorn der überwältigenden [– S.137 –] konservativen Mehrheit ganz bedeckt halten. Erst als 1826 das Zentrum der jeder Neuerung abholden Kräfte, das Janitscharenkorps in Istanbul, von loyalen Truppen des reformorientierten Sultan Mahmud II. in einem Massaker zerschlagen werden konnte, entstand in der Staatsbürokratie etwas mehr Spielraum für die Verbreitung neuer Ideen und Konzepte. Außerhalb des Staatsapparates gab es zu Beginn des 19. Jahrhunderts im muslimischen Sektor der osmanischen Gesellschaft erst recht keine soziale Gruppe, keinen Mittelstand, kein Bürgertum oder gar eine Bourgeoisie, die Veränderungsforderungen hätte einbringen oder unterstützen können. Selbst die städtischen ayan, die durch ihre Verfügungsgewalt über Großgrundbesitz und Geldvermögen noch am ehesten der Vorstellung von einem „Mittelstand“ entsprachen, trachteten vor allem danach, zu hohen Staatsfunktionären aufzusteigen und blieben so Teil der alten sozialen Dynamik.
Behält man diesen gesellschaftlichen Zustand im christlichen wie im muslimischen Sektor im Auge, muß es merkwürdig anmuten zu hören, daß „1804 in Serbien“ eine „nationale Revolte[...] gegen den Sultan“[51] ausgebrochen sein soll. Sollte es wirklich „die Macht des Nationalismus“ gewesen sein, die „die Serben befähigte, einen halbautonomen Nationalstaat zu erkämpfen“?[52] Eine nähere Betrachtung unterstützt diese Ansichten nicht.
Serbien, dessen größter Teil sich vor 1739 gut zwanzig Jahre in habsburger Gewalt befunden hatte, besaß bei Ende des 18. Jahrhunderts nur eine dünne muslimische Herrenschicht, die fast vollständig in den großen befestigten Städten konzentriert war[53], weshalb die orthodoxen Dörfler lange Zeit weitgehend unbehelligt von ayan und anderen Usurpatoren ihre alte Autonomie unter selbstgewählten Provinzhäuptlingen praktizieren konnten. Der in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts stark expandierende Exportmarkt für Schweine bot zudem etlichen Bauern die Chance, zu wohlhabenden Händlern bzw. Unternehmern aufzusteigen — eine Blüte, die im deregulierten osmanischen System fast notwendig ungebetene ‚Teilhaber‘ und ‚Beschützer‘ auf den Plan rufen mußte. Vor allem machtgierige Janitscharenchefs fielen mit ihren Truppen in die Provinz ein und versuchten, das çiftlik-System in Serbien gewaltsam durchzusetzen.[54] [– S.138 –] Zu Beginn des 19. Jahrhunderts war ein regelrechter Kleinkrieg im Gange, wobei die Pforte sogar die Bewaffnung ihrer christlichen reaya sanktionierte, da sie selbst unfähig war, die außerplanmäßige Ausplünderung ihrer Tributzahler durch die unbotmäßigen Janitscharen zu stoppen. Als das Freibeutertum der Janitscharenpaschas auch den einträglichen Schweineexport zu strangulieren drohte, übernahm die Elite der Schweinehändler die Führung des Widerstands.[55] So kam es 1804 zu einem allgemeinen Aufstand, dessen Ziel anfangs eindeutig die Wiederherstellung der geregelten Souveränität des Sultans war.[56]
Mehrere Faktoren führten jedoch dazu, daß die Sache eine andere Wendung nahm. Zum einen war der Kampf unter der Führung des Schweinegroßhändlers Karađorđe[57] so erfolgreich, daß letzterer Appetit auf mehr als die bloße Wiederherstellung des status quo ante bekam, zum anderen brach 1806 Krieg mit dem Zarenreich aus, und die russische Invasionsarmee in den Donaufürstentümern sandte Hilfe an Karađorđe, um eine zweite Front im Rücken der osmanischen Verteidiger zu eröffnen.[58] Zudem begannen die Jahrzehnte zuvor ins Habsburger Reich geflohenen orthodoxen Glaubensbrüder für einen Anschluß an Österreich-Ungarn zu werben.[59] Am Ende schuf Karađorđe nichts anderes als seine eigene Herrschaft — als ein weiterer ayan im Reiche.[60] Mit dieser Selbstherrlichkeit war es jedoch rasch vorbei, als der Krieg mit Rußland im Frieden von Bukarest (1812) sein Ende fand. Der Zar begnügte sich im Artikel 8 des Friedensvertrages damit, den Osmanen eine Garantie für eine vage Selbstverwaltung Serbiens [– S.139 –] abzunötigen, und ließ Karađorđe fallen.[61] Da nach dessen Liquidierung (1813) die Willkürherrschaft der Janitscharenpaschas ungebremst wiederauferstand und eine neuerliche Revolte dagegen aufflammte, mußte die Pforte einsehen, daß sie außerstande war, eine geordnete Beherrschung zu garantieren. Daraufhin kam es zu einer Lösung nach traditionellem Muster: Ein Führer der Aufständischen, Miloš Obrenović — ein weiterer Exportgroßhändler, wurde zum Vasallenherrscher über Serbien ernannt und damit die Region befriedet.[62]
Vertreter eines serbischen Nationalgedankens hatten bis dahin keine nennenswerte Rolle gespielt. Erst nach 1838, als Serbien auf Druck der europäischen Großmächte in eine noch weitergehende Autonomie entlassen werden mußte, rückten etliche von ihnen, meist gebildete Rückkehrer aus dem österreichisch-ungarischen Exil, beim Aufbau der neuen Regierungsbürokratie in Schlüsselpositionen auf.[63] Das heißt, die Selbständigwerdung Serbiens kann man wohl kaum dem Wirken einer „serbischen Nationalbewegung“ anrechnen. Das bäuerliche Fußvolk hatte dafür gekämpft, die alte Autonomie der dörflichen Gemeinschaften vor dem Würgegriff der neu aufgetauchten Janitscharendiktatur zu retten — wessen Hoheit diese Autonomie anschließend dauerhaft garantieren sollte, war eine pragmatische, keine nationale Frage.[64] Die Herrschaft Obrenovićs erwies sich im übrigen als kaum verschieden von früheren, nur daß nun ein christlicher paşa der Pforte für die Aufrechterhaltung der Ordnung und die Entrichtung des Tributs geradestand.[65]
[– S.140 –]Ein durchaus ähnliches Zusammentreffen eines bäuerlichen Massenprotestpotentials mit einer Führung aus erfolgreichen Export-Händlern/Unternehmern, die eine politische Absicherung ihrer ökonomischen Vormachtstellung erstrebten, stand auch am Anfang des sogenannten „griechischen Unabhängigkeitskrieges“, der 1821 auf dem Peloponnes seinen Ausgang nahm. Im letzten Viertel des 18. Jahrhunderts litt die ganze Halbinsel unter der Willkürherrschaft muslimischer Söldnerbanden, die 1770 zur Unterdrückung lokaler Empörungen gegen die raffgierigen osmanischen Provinzstatthalter angeheuert worden waren und seitdem den Peloponnes als ihre ‚rechtmäßige‘ Pfründe behandelten.[66] Ein Exodus griechisch-orthodoxer Bauern nach Kleinasien war die Folge sowie eine Zunahme des Sozialbanditentums. Kurz: es herrschte die übliche Anarchie, wie in vielen anderen Provinzen des Reiches, die der Kontrolle der Pforte entglitten waren — mit dem einen Unterschied, daß hier eine beträchtliche Anzahl christlicher warlords mit von der Partie waren, denn die muslimische Herrschaftsschicht aus Notabeln und Staatsfunktionären war auf dem Peloponnes, ganz wie in Serbien, vergleichsweise schmal.[67] Zum einen hatte die dreißigjährige venezianische Besetzung den muslimischen Bevölkerungsanteil insgesamt dezimiert, zum anderen gab es eine starke christliche Konkurrenz — christliche Großgrundbesitzer waren auf dem Peloponnes keine Seltenheit. Hinzu kamen in den Hafenstädten mächtige christliche Schiffsreeder, die im Getreideexporthandel reich geworden waren. Beiden Gruppen hatte der Zusammenbruch des französischen und englischen Handels im Mittelmeerraum durch die wechselseitige Blockade der kriegführenden Parteien während der Napoleonischen Kriege ungeahnte Bereicherungsmöglichkeiten eröffnet.[68]
Die schon erwähnten nationalistischen Exilgeheimbünde waren am Ausbruch der Kämpfe auf dem Peloponnes kaum beteiligt. Der größte, die 1814 in der russischen Hafenstadt Odessa am Schwarzen Meer gegründete Philiké Hetairia („Gesellschaft der Freunde“), hatte seine ganze Kraft in ein von Anfang an zum Scheitern verurteiltes Unternehmen gesteckt: Unter Führung Alexandros Ypsilantis', eines vornehmen phanariotischen Offiziers in zaristischen Diensten, hatte man im russischen Grenzgebiet zu den Donaufürstentümern eine kleine, im europäischen Exilmilieu rekrutierte Armee aus nationalistischen Freiwilligen [– S.141 –] aufgestellt.[69] Nachdem zahlreiche einflußreiche Persönlichkeiten auf dem gesamten Balkan durch ein weitgespanntes Netz von Mitverschwörern kontaktiert worden waren, hoffte man, mit dem Einfall in das Fürstentum Moldau das Signal zu geben für einen allgemeinen Aufstand gegen Istanbul. Tatsächlich jedoch war die Reaktion gleich null, und die Armee Ypsilantis' wurde binnen kurzem von regulären osmanischen Verbänden vernichtet.[70] Damit war die Philiké Hetairia am Ende und mit ihr die — in ihrer Mehrheit gar nicht beteiligten — Mitglieder der Phanariotenclique in Istanbul, die nach der korporativen Logik des Reiches trotz allem mitschuldig waren.[71]
Jener Aufstand hingegen, der letztlich tatsächlich zur Schaffung eines unabhängigen Königreichs Griechenland führen sollte, wurde von lokalen Notabeln des Peloponnes ausgelöst, die sich von der Ausschaltung ihrer muslimischen Konkurrenz eine Festigung der eigenen Machtstellung erhofften und dafür der orthodoxen Bevölkerung ein Ende der Ausplünderung durch die muslimische Soldateska versprachen. Die Rache der Pforte mußte, nachdem die Kämpfe sich rasch ausgebreitet hatten und die wenigen osmanischen Truppen auf dem Peloponnes hinweggefegt worden waren, unweigerlich das ganze griechisch-orthodoxe millet treffen, vor allem aber seine seit Ypsilantis' Aufstand ohnehin angeschlagene Führungsspitze: Die Hinrichtung des Patriarchen, der sich vergeblich von den Rebellen distanzierte, war nur der Auftakt.[72] Die etwas Vorausschauenderen unter den Istanbuler Phanarioten versuchten zu retten, was noch zu retten war, indem sie auf den fahrenden Zug zu springen und die Führung des Aufstands an sich zu reißen trachteten, der dadurch eine neue Richtung nehmen mußte. Als mit dem Einströmen revolutionär gesinnter Exilaktivisten [– S.142 –] aus Westeuropa zusätzliche Fraktionen mit Führungsanspruch auftauchten, ging der Aufstand in einen „Bürgerkrieg“ aller gegen alle über und nur die Zersplitterung der osmanischen Streitkräfte an verschiedenen inneren und äußeren Fronten verhinderte, daß die Rebellen bereits in dieser Phase niedergeworfen wurden.[73]
Tatsächlich bedurfte es der ‚Amtshilfe‘ des Statthalters von Ägypten, Muhammed Alis, um den Peloponnes zurückzuerobern; vor dem vereinten Vorstoß der ägyptischen und osmanischen Truppen brach das zwischenzeitlich ausgerufene „unabhängige Griechenland“ zusammen. Ende 1827 war der Aufstand praktisch am Ende, als die massive militärische Intervention einer kombinierten französischen, englischen und russischen Flotte plötzlich das Blatt wendete und die erfolgreiche ägyptische Armee zum bedingungslosen Rückzug zwang.[74]
Von einer zielstrebigen Aktion eines homogenen „imperialistischen Blocks“ zur Aufsplitterung des Balkans in lauter Marionettenstaaten kann allerdings keine Rede sein, vielmehr waren alle Seiten ängstlich bestrebt, das überaus labile europäische Gleichgewicht durch den peloponnesischen Aufstand nicht abstürzen zu lassen.[75] Alle diplomatischen Bemühungen der Großmächte, [– S.143 –] untereinander eine einvernehmliche Haltung zur Lösung der „griechischen Frage“ herzustellen, waren ergebnislos geblieben, deshalb erfolgte die Intervention höchst widerwillig, planlos und voller wechselseitigem Mißtrauen, die jeweiligen Konkurrenten könnten bei dieser Schwächung der Pforte mehr gewinnen als man selbst. Als Rußland überdies, durch die jahrelangen fruchtlosen Konsultationen mit den anderen Großmächten frustriert, 1828/29 auf eigene Faust an die Zerlegung des Osmanischen Reiches ging und ihm schwere militärische Niederlagen beibrachte, wurde die „griechische Frage“ zu einem Randproblem, angesichts des drohenden Kollaps des Osmanischen Reiches und der heraufziehenden Gefahr eines allgemeinen Verteilungskrieges unter den Großmächten. Der Druck Frankreichs und Englands schraubte dann die russischen Ansprüche noch einmal auf ein für die ersteren erträgliches Maß zurück, und sozusagen ‚nebenbei‘ schuf man — ohne die „griechische Regierung“ (die angesichts eines neuerlichen Bürgerkrieges als eine einheitliche auch gar nicht existierte) groß zu fragen — per dreiseitigem Vertrag (Frankreich, England und Rußland) einen unabhängigen Staat „Griechenland“, dem obendrein eine absolute Monarchie als Staatsform verordnet wurde.[76]
Die Loslösung des „griechischen“ Staates vom Osmanischen Reich kann daher ebenfalls nur zu einem geringen Teil der „Kraft des Nationalismus“ angerechnet werden. Behauptungen wie jene, daß „bei Ausbruch der Revolution fast jeder männliche Grieche des In- und Auslandes ein Hetairist“[77] gewesen sei, sagen weitaus mehr aus über die Unverzichtbarkeit des nationalen Welterklärungsmodells in der heutigen Zeit als über die Zustände im Osmanischen Reich in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts.[78] In dieser Hinsicht sprechend ist auch die Wortwahl in manchen historischen Darstellungen: Der Aufstand auf dem Peloponnes sei ein „Unabhängigkeitskrieg“ gewesen, ausgeführt von „Freiheitskämpfern“, während die Rebellion des ayan Tepedeleni Ali Paşa, die das gleiche Ziel hatte, nämlich die Loslösung von der Hoheit der Osmanlı, [– S.144 –] als „Zusammenraffen von Territorien“ durch einen „berüchtigten, widerspenstigen Pascha“ im Rahmen „feudaler Anarchie“ gilt.[79] Statt in diesem Stile pauschal vom „nationalen Erwachen der unterdrückten Balkanvölker“ zu sprechen, das zum Kampf um „nationale Befreiung vom türkischen Joch“ geführt habe, gehe ich davon aus, daß für die schrittweise Abspaltung und letztliche Ersetzung des Osmanischen Reiches durch eine Vielzahl nominell selbständiger Staaten das Aufkommen des Nationalismus nur ein Faktor unter vielen — und längst nicht der wichtigste — gewesen ist.
Bei der Behandlung des „griechischen“ und „serbischen“ Nationalismus sind indessen Muster zutage getreten, die auch für die Ereignisse etliche Jahrzehnte später in Kurdistan von Bedeutung sind. Chirot und Barkey formulieren es so:
„Die örtlichen Unabhängigkeitsbewegungen hatten wenig oder nichts mit Nationalismus zu tun, außer in Griechenland, und selbst dort waren die Nationalisten Auswärtige, die sich nachträglich einem Aufstand anschlossen und versuchten, seinen Verlauf zu bestimmen, sie waren nicht die Hauptakteure. Muslimische Regionen hatten ebenso die Tendenz, sich von der Kontrolle der Zentralgewalt zu lösen, wie die christlichen. Die Anführer waren örtliche Landbesitzer und andere Notabeln, die versuchten, ihre Stellung zu sichern, einerlei, ob die Menschen in ihrem Gebiet nun der gleichen sprachlichen und religiösen Gruppe angehörten oder nicht.“[80]
Allerdings konnten die aus dem Exil heimkehrenden Agitatoren für eine nationalistische Umgestaltung — oder besser: Zerschlagung — der osmanischen Gesellschaft auf ein großes und stetig wachsendes Potential an sozialer Unzufriedenheit unter den ländlichen reaya-Massen zurückgreifen, das diese Gesellschaft als Produkt eigener (Fehl)Entwicklungen aufzuweisen hatte. Es handelte sich um die Empörung bedrängter Bauern, deren Lebensgrundlage unter den Bedingungen der ayan-Herrschaft sowie ständiger, verlustreicher Kriege in ihrer Substanz angegriffen wurde. Diese traditionell in Bildung von Räuberbanden, manchmal auch in spontanen, lokalen Rebellionen geäußerte Auflehnung war im Kern jedoch restaurativ, denn sie zielte gerade auf die Wiederherstellung geregelter staatlicher Ordnung, damit die Bauern wieder in Ruhe leben könnten.[81]
[– S.145 –]Jene Führungsgestalten wie Karađorđe oder Kolokotrones, die dieses eher diffuse Widerstandspotential aufgriffen und ihm zum Erfolg verhalfen, verfolgten dabei hauptsächlich ihre eigenen Machtinteressen, denen sehr wohl auch mit einem autonomen Vasallenstatus unter der Hoheit des Sultans gedient sein konnte. Die Zielrichtung „Nationalstaat“ blieb allein das Projekt einer zahlenmäßige geringen Avantgarde von im Ausland herangereiften Nationalisten, die nur im Windschatten der strategischen Interessen einer oder mehrerer Großmächte sich gegen die traditionellen lokalen Kräfte durchsetzen konnte, denen eher an einer graduellen Verbesserung ihrer Position innerhalb des osmanischen Systems gelegen war.
Es wird allerdings noch zu zeigen sein, daß die Bedingungen für die allgemeine Verbreitung sozialer Unzufriedenheit in der kurdischen Gesellschaft etwas anders gelagert waren. Trotzdem sehe ich interessante Parallelen etwa zwischen dem Aufstand unter Sheikh Ubeydullah (1880) und jenem unter Karađorđe in Serbien, aber auch zwischen dem peloponnesischen Aufstand und jenem unter Sheikh Sait (1925). Zu berücksichtigen ist dabei ein time-lag zwischen West- und Ostteil des Reiches von fast einhundert Jahren, eine Zeitspanne, in der sich die ganze Welt und mit ihr natürlich das Osmanische Reich verändert hatte. So konnte die Pforte etwa bei Aufkommen der ersten zaghaften Forderungen nach einer kurdischen Autonomie bereits auf jahrzehntelange Erfahrungen im Umgang mit separatistischen Bewegungen dieser Art im Westteil zurückgreifen. Zu ihrer Zeit selbst haben von den in diesen Abschnitt diskutierten Entwicklungen nur wenige die kurdische Gesellschaft unmittelbar berührt, am stärksten gerade jene, die bislang nur angerissen werden konnte: die Rezentralisierung des Staatsapparats in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts, die in der Vernichtung des Janitscharenkorps 1826 einen dramatischen und blutigen Höhepunkt erlebte.
Das Grundmuster jedoch, das Entstehen einer zahlenmäßig geringen nationalistischen Avantgarde in großen urbanen Zentren fern ab jener Regionen, die sie selbst als ihre nationale Heimat zu betrachten lernten, sowie ihr Zusammentreffen mit traditionellen lokalen Führern, die eigene Machtinteresse zu fördern hatten, und der Versuch, der durchaus anders motivierten Aufstandsbereitschaft der ländlichen Massen eine nationale Mission überzustülpen, all das ist im Falle des kurdischen Nationalismus wiederzufinden.
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