Nationalismus in Kurdistan (1993)

3. Die Entwicklung der kurdischen Gesellschaft
bis zum 19. Jahrhundert

Die Auswirkungen auf Kurdistan

Läßt man die knapp dreihundert Jahre der nicht immer freundschaflichen, aber funktionierenden ‚Kohabitation‘ von osmanischer Staatsmacht und der alteingesessenen Machtelite Kurdistans[1] von Çaldıran bis zum Beginn des 19. Jahrhunderts Revue passieren, erkennt man, daß das von manchen Autoren „Autonomiestatut“ genannte Werk Idris Bitlisis nur während des 16. Jahrhunderts wirklich von Bedeutung war, denn nach der durch die celali-Aufstände markierten großen Wende wurden die vormals „kurdisch“ genannten Sonderrechte praktisch zum Normalmodus der osmanischen Verwaltung. Von daher ist die in gängigen Darstellungen oft anzutreffende Behauptung, die von der Pforte 1515 gegebenen Autonomieversprechen seien schon „bald“ nichts mehr wert gewesen, bzw. das Osmanische Reich habe spätestens nach 1639 (Friedensschluß mit den Safaviden) aggressiv versucht, seine direkte Herrschaft nach Kurdistan auszudehnen, wenig erhellend.[2] Die wesentliche Schwäche dieser Behauptung ist, daß sie einen linearen — allenfalls von Phasen der Stagnation unterbrochenen — Verlust an Autonomie impliziert. D.h. man unterstellt, daß sich die lokalen Herrschaften in Kurdistan zum Zeitpunkt der Kooption durch das Osmanische Reich auf einem später nicht wieder erreichten Maximum an Autonomie befunden hätten und daß nach anfänglicher Einhaltung der ‚Versprechungen‘ der Zentralisierungsdruck seitens der Pforte stetig gewachsen sei, um schließlich seinen ‚logischen‘ Abschluß zur Mitte des 19. Jahrhunderts mit der Auslöschung der Emirate Kurdistans zu finden.

Zum einen muß es bedenklich stimmen, daß hier zwei ganze Jahrhunderte komplexer gesellschaftlicher Entwicklung reduziert werden auf den Aspekt, [– S.118 –] ‚Vorgeschichte‘ der zwischen 1830 und 1850 statthabenden Kämpfe zwischen der Zentralmacht und ihren Vasallen in Bitlis, Cizre und Rawanduz usw. zu sein[3], zum anderen läßt die weiter oben in diesem Abschnitt dargestellte Erosion der osmanischen Zentralmacht während des 17./18. Jahrhunderts solch eine lineare Entwicklung sehr unwahrscheinlich erscheinen. Mein Eindruck ist, daß hier an die Stelle einer genaueren Beschäftigung mit den damaligen gesellschaftlichen Entwicklungen eine Rückprojektion heutiger Analysen über den „kolonialen“ Status Kurdistans innerhalb der Türkischen Republik getreten ist. Das heißt, durch eine anachronistische Verwechslung der Staatsraison des Osmanischen Reiches mit türkisch-nationalen Bestrebungen des 20. Jahrhunderts erscheint Kurdistan als Opfer einer zielstrebig seit 1515 vorangetriebenen türkischen „Kolonialisierung“.

In diesem Zusammenhang ist auch die Behauptung zu sehen, daß es 1639 zu einer „Teilung Kurdistans“ gekommen sei[4], ein Stereotyp, mit dem Kategorien zur Anwendung kommen, die zur Beschreibung des Verhältnisses zwischen Osmanischem und Persischem Reich in der ersten Hälfte des 17. Jahrhunderts gänzlich unpassend sind. Zunächst einmal muß man sich ins Gedächtnis zurückrufen, daß das Osmanische Reich — vom Persischen ganz zu schweigen — selbst auf dem Gipfelpunkt seiner Macht niemals eine „Territorialherrschaft“ ausübte, die mit heutigen Vorstellungen vergleichbar gewesen wäre.[5] Als ein [– S.119 –] dynastisches Reich definierte es sich über sein Zentrum, nicht über seine Grenzen.[6] Die allgemeine Feststellung de Planhols:

„Ein islamischer Staat ist zunächst eine Dynastie und eine Hauptstadt, eine Stadt, in der der Fürst in der Großen Moschee das Freitagsgebet in seinem Namen sprechen lassen kann. Von dieser Hauptstadt aus erstreckt sich die Autorität der Macht in einem mehr oder weniger weiten, doch meist ununterbrochenen Radius, um schließlich unbestimmter und bloß nominell zu werden. Jenseits des kontrollierten und beherrschten Landes, das der Stadt und der Armee zum Unterhalt dient, kommt man allmählich in Zonen bäuerlicher Unbotmäßigkeit, besonders wenn ein hinderndes Relief die Kontrolle des Landes erschwert.“[7]

trifft auch auf das Osmanische Reich zu. Man darf sich nicht täuschen lassen von den konventionellen historischen Karten, die mit ihren exakten Linienziehungen und präzis umrissenen Einfärbungen vorgeben, ebenso scharf begrenzte Staatsterritorien für alle möglichen Zeitalter festlegen zu können — ein Problem, daß der Geschichtswissenschaft natürlich nicht unbekannt ist.[8] Die Hoheit der Osmanlı endete an keiner genau definierbaren Stelle, theoretisch konnten sie im 16. Jahrhundert sogar die Souveränität über das Habsburger Reich, Venedig und Polen beanspruchen, da diese Staaten allesamt tributpflichtig waren.[9] Jenseits ihrer europäischen und anatolischen Kernprovinzen konnten die Osmanen immer nur die großen Zentren und deren Umfeld tatsächlich beherrschen. Dahinter [– S.120 –] verschwamm die staatliche Autorität in unzähligen Abschattierungen von Loyalität und Unbotmäßigkeit der lokalen Machthaber. Grenzen im modernen Sinne mit Fahnenmasten und permanent präsenten Grenzschutztruppen diesseits und jenseits einer imaginären Linie auf dem Boden hatte das Osmanische Reich im 17. Jahrhundert nicht. „Grenzen“ kannte es höchstens im Sinne eines labilen „Indifferenzzustandes von Defensive und Offensive“.[10]

Nun ist es schon fast ein Standard in der Kurdistanliteratur, zum Beleg für die Kontinuität der „Teilung Kurdistans“ durch Großmachtwillkür anzuführen, daß die „Grenzen“ zwischen Osmanischem und Persischem Reich seit dem Friedensschluß von 1639 praktisch bis auf den heutigen Tag unverändert geblieben seien:

„Die Teilung Kurdistans und des Volkes vom kurdischen Stamm, beruht [...] auf eben diesem KASR-I SIRIN-Abkommen von 1639, als die heute noch gültige Grenzziehung zwischen der Türkei und dem Iran festgelegt wurde.“[11]

„Eine einschneidende Änderung brachte 1639 der Vertrag von Zuhab zwischen den Osmanen unter Sultan Murad IV und den Persern unter Abbas II, der — abgesehen von zeitweiligen Verschiebungen — die heutige Grenze festlegte und beiderseits als verbindlich anerkannte.“[12]

„Sultan Murād IV. unterzeichnete [...] (1639) mit Persien einen Vertrag, der bis ins XIX.Jahrhundert der türkisch-persischen Grenzregulierung zugrunde lag. Damit aber wurde Kurdistan zwischen den beiden Reichen aufgeteilt.“[13]

Eine genauere Lektüre des Textes, der Mitte Mai 1639 im großherrlichen Feldlager auf der Ebene von Zuhab zwischen Murad IV. und einem Bevollmächtigten Schah Safi I. ausgehandelt wurde, scheint mir allerdings diese Interpretationen nicht zu unterstützen.[14] Von einer Grenzziehung im modernen Sinne kann keine Rede sein; man verständigte sich vielmehr darüber, welche befestigten Plätze wem untertan sein sollten, denn staatliche Autorität konnte unter den damaligen Umständen nur von solchen ‚Inseln‘ ausgehen. Die Hoheit über ein „legal abgegrenztes Territorium“[15] stand nicht zur Diskussion. Außerdem blieb Kurdistan praktisch bis zum Ende des Osmanischen Reiches eine für die [– S.121 –] Zentralgewalt nicht wirklich zu kontrollierende Region, deren häufige Unbotmäßigkeit hingenommen werden mußte und zumeist nur mit Zugeständnissen wettgemacht werden konnte. Die Verhältnisse auf der nominell persischen Seite sahen sogar noch konfuser aus, da das Persische Reich sich als Staat bis ins 20. Jahrhundert hinein nicht über den Status einer Stammeskonföderation erhob.[16] Echte Anstrengungen zu einer dauerhaften Fixierung der Grenze im modernen, vermessungstechnischen Sinne wurden erst 1913/14 auf Druck Englands und Rußlands unternommen und trafen prompt auf massiven Widerstand der örtlichen Bevölkerung.[17]

Der Ausdruck „Teilung Kurdistans“ birgt aber noch weitere Tücken: So scheint eine Assoziation zu den „Teilungen Polens“ zunächst berechtigt und ist von jenen AutorInnen, die von einer „ersten“ und „zweiten“ Teilung Kurdistans sprechen[18], wohl auch beabsichtigt; tatsächlich jedoch existiert die durch die Begriffswahl nahegelegte Parallele nicht. Teilen kann man nämlich nur etwas, was eins ist, also eine durchgängig einheitliche Substanz aufweist, und Polen hatte schon mehrere Jahrhunderte Bestand als ein Königreich, als sein Staatsterritorium zerteilt und anderen Staaten zugeschlagen wurde, während ein Staat „Kurdistan“ weder vor noch nach 1639 jemals existiert hat und somit damals auch nicht geteilt werden konnte.

Sieht man von der staatlichen Dimension ab und versteht „Kurdistan“ als geographisch-physikalischen Raum, so erscheint der Begriff „Teilung“ schon allein deshalb unangemessen, weil die Erdoberfläche als solche sich nicht wie eine Beute teilen und davonschleppen läßt. „Teilen“ sowie „Zusammenfassen“ des Raumes zu Einheiten sind rein menschliche Transaktionen, als einziger physikalischer Aspekt einer solchen Grenzziehung käme allenfalls eine eventuell eintretende Einschränkung menschlicher Bewegungsfreiheit im Raum infrage, [– S.122 –] etwa dergestalt, daß Menschen nicht mehr umstandslos von Ort A nach Ort B gelangen können. Doch muß man sich — wie schon oben erläutert — die Realität der damaligen Grenzen ganz anders vorstellen als etwa nach dem Modell „Berliner Mauer“, nämlich eher so, wie auch heute noch ein Grenzübertritt von Jordanien nach dem Irak vonstatten geht: Nach Verlassen des letzten festen Ortes, dessen lokale Obrigkeit dem einen Herrscher hörig ist, durchquert man Hunderte Kilometer staatlich völlig indifferenter Wüste, um dann erst wieder bei Erreichen des nächsten festen Ortes überhaupt Anzeichen von Hoheit festzustellen, nur eben anderer Hoheit. Eine Staatsgrenze stellte damals kein relevantes Hindernis für die Freizügigkeit im Raum dar, jedenfalls haben sich die viehzüchtenden Stämme bei ihren saisonalen Wanderungen mit ihren Herden nie um theoretische Linien auf irgendwelchen Karten gekümmert.[19] Erst seitdem in diesem Jahrhundert die Möglichkeit des Angriffs aus der Luft hinzukam, reichte das Zwangsinstrumentarium der beteiligten Staaten aus, um auch die Nomaden zur ‚Respektierung‘ von Grenzen zu zwingen.[20]

Es wurde also mit dem Vertrag von 1639 weder der Raum als Staatsterritorium noch der physikalische Raum als Ort menschlicher Bewegungen und Begegnungen geteilt[21], Gegenstand waren allein Ansprüche auf Herrschaft über Menschen.[22] Wenn trotzdem von einer „Teilung Kurdistans“ die Rede ist, dann steht der einheitliche räumliche Ausdruck „Kurdistan“ letztlich nicht für ein Stück Erdoberfläche, sondern für eine angenommene Einheit von Menschen: „Kurdistan“ bildet nämlich nur dann ein teilungsfähiges Ganzes, sofern man es als kollektiven Wohnsitz einer einheitlichen Nation von „Kurden“ begreift. Die [– S.123 –] Verwendung des Begriffs „Teilung Kurdistans“ hat dann notwendig auch die Annahme von „Fremdherrschaft“ zur Folge, denn eine Nation zu teilen und in getrennte Herrschaftsgebilde einzugliedern, bedeutet in der bewußten Logik, ihr Recht auf Selbstbestimmung zu negieren. Somit impliziert der Begriff aus sich heraus schon jenen Wust von Postulaten und Fehlurteilen, dessen Untauglichkeit für die historische Analyse ich bereits im Abschnitt „Fremdherrschaft“ behandelt habe. Wenn man im übrigen bedenkt, daß der Niedergang der osmanischen Zentralgewalt im vollen Gange war und etwa die 1638 unter großem Aufwand von den Safaviden zurückeroberte Provinz Bagdad sogleich wieder in einen Zustand der Halbautonomie zurückfiel und sich ab 1704 endgültig in ein Vasallenfürstentum verwandelte, dann mag es nicht recht einleuchten, warum sich durch den Vertrag von Zuhab Grundsätzliches im Verhältnis zwischen Pforte und der Machtelite Kurdistans hätte verändert haben sollen.[23]

Ich gehe vielmehr davon aus, daß die fast dreihundert Jahre, die seit der Kooption Kurdistans in das Osmanische Reich bis zum Beginn des 19. Jahrhunderts vergingen, bei allen Turbulenzen an der Ereignisoberfläche eine Phase größter sozialer und politischer Stabilität darstellten. Allerdings könnte man ebensogut Stagnation darin erblicken, denn trotz der periodisch wiederkehrenden Kriege mit Persien, später auch mit Rußland[24], die regelmäßig auch Kurdistan betrafen, trotz aller lokalen Aufstände und Kriege zwischen den einzelnen Emiraten und der sich dadurch ergebenden politischen Kräfteverschiebungen unter den Herrschenden sowie des Auftretens mindestens eines mahdis[25] , blieben die grundlegenden Verhältnisse innerhalb der kurdischen Gesellschaft weitgehend unberührt.

Seit den Anfängen des 16. Jahrhunderts hatten sich weder die sozio-politischen Organisationsformen noch die Produktionstechniken, noch die Formen der Aneignung des Mehrprodukts wesentlich geändert. Es waren immer noch die gleichen Emire und Stammeschefs, die — anders als etwa die kommerzialisierte osmanische ayan-Schicht — mit den überkommenen Formen der einfachen Tributabpressung das unverändert schmale Mehrprodukt der vielen kleinen Subsistenzeinheiten abschöpften. Selbst jene Umwälzungen, die das Osmanische Reich gegen Ende des 16. Jahrhunderts in den Grundfesten erschütterten, hatten in Kurdistan kaum Auswirkungen gehabt, denn die timars der [– S.124 –] dortigen Herren konnten kaum eingezogen werden[26], und auch der dramatische Autoritätsschwund der Zentralgewalt — überall sonst im Reich begleitet vom Aufstieg regionaler und lokaler Usurpatoren, erhöhter Ausbeutung und Verfall der sozialen Sicherheit — bedeutete für die östliche Peripherie keinen Verlust an Normalität.[27] Im Gegenteil, die alteingesessenen Herrschaften konnten dort ihre Autorität weiter festigen.

Ebenso wirkten sich die mit dem allgemeinen Niedergang des Osmanischen Reiches verbundenen ökonomischen Aspekte, wie der Zusammenbruch des Gewürzhandels mit Indien, nicht so stark auf die Peripherie aus, denn die Pfefferkarawanen waren dem unwegsamen Bergterrain schon zu Uzun Hasans Zeiten ausgewichen.[28] Der Handel mit Rohseide aus Gilan und Shirvan hingegen verebbte nie ganz. Bitlis beispielsweise war auf der Route der Seidenkarawanen von Täbris nach Aleppo gelegen und fuhr fort, von seiner Rolle als Umschlagsplatz zu profitieren — zumindest solange kriegsbedingte Handelsblockaden das Geschäft nicht unterbanden.[29]

So waren die Grundlagen der gesellschaftlichen Beziehungen zu Anfang des 19. Jahrhunderts gegenüber den Zeiten Idris Bitlisis und Sultan Selims I. nahezu unverändert: Die Stammesleute herrschten über die reaya, welche fügsam (oder zähneknirschend) ihr Mehrprodukt ablieferten. Die von der Pforte anerkannten Emire entfalteten ihren Hofstaat und sahen zu, daß die Streitigkeiten unter den Stammesleuten nicht ausstarben, aber auch nicht überhandnahmen. Und die Vorrangstellung des Nomadentums fand seine Schranken einzig in den Interessen der städtischen Eliten, besonders in jenen Provinzzentren wie Diyarbakır, Silvan oder Mardin, wo es keine „kurdischen“ Sonderrechte gab und osmanische ayan das Sagen hatten. Erst nach 1812 traten fühlbare Veränderungen an diesen Zuständen auf. [– S.125 –]

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Fußnoten:

1
Man sollte sich immer vor Augen halten, daß es sich hier — entsprechend der korporativen Grundstruktur des Osmanischen Reiches — um die Beziehungen zweier Eliten, nicht zweier „Nationen“ handelte. Der einzelne hatte praktisch nie mit der Staatsgewalt direkt zu tun, es sei denn als Opfer einer Strafexpedition, die sich genau genommen aber auch nicht gegen ihn, sondern gegen seinen unbotmäßigen Herrn richtete. Noch Anfang des 20. Jahrhunderts konnte daher ein einheimischer Würdenträger zurecht sagen: „Weder die persische noch die türkische Regierung nehmen die Angehörigen eines kurdischen Stammes als direkte Untertanen in Anspruch. Die Regierung hält sich stets und allein an den Fürsten oder Häuptling. Von diesem verlangt sie die Steuern, macht ihn eventuell auch für Handlungen seiner Untertan[en] verantwortlich.“ (al-Kazi „Studien aus dem Rechtsleben in Kurdistan“ S.330)
2
Beispiele siehe bei: Ghassemlou Kurdistan and the Kurds S.38f; Küchler Öffentliche Meinung S.103; More Les Kurdes aujourd'hui S.50; Jwaideh The Kurdish Nationalist Movement S.39; Safrastian Kurds and Kurdistan S.44; Vanly Survey of the National Question of Turkish Kurdistan S.13 (dt.: S.26)
3
Was etwa zu solch pauschalen Urteilen führt: „Jahrhundertelang stand der größte Teil der Kurden unter der politischen Macht des Ottomanischen Reiches, das am Ende des I. Weltkrieges auseinanderbrach. Das Ergehen der Kurden in diesem Reich war sehr wechselvoll und im allgemeinen durch Benachteiligung und z. T. durch Unterdrückung gekennzeichnet, so daß es u. a. Anfang des 19. Jh. zur Auflehnung kam [...]“ (Fochler-Hauke „Die Kurden. Volk ohne Staat“ S.1)
4
Hier eine kleine Auswahl aus gut einem Dutzend fast gleichlautender Zitate: „Wenn dieses Einigungsstreben sich 200 Jahre früher entfaltet hätte, als Reaktion auf den Vertrag von Zohab [...] zwischen den osmanischen Türken und den Safawīden aus dem Jahre 1639 [...] hätte die folgende 1. Teilung Kurdistans und die unerwünschte Eingliederung der Kurden in das Osmanische Reich [...] vielleicht vermieden werden können.“ (Küchler Öffentliche Meinung S.103) “By the treaty of 1639, Sultan Murad IV of Turkey and Shah Abbas II of Iran agreed on a frontier line slicing through the middle of northern Kurdistan and sealing a fatal tradition of Kurdish division.” (Eagleton „Stichwort: Baghdād“ S.4) “In 1639, the Treaty of Zuhab was concluded between the Sultan Murad IV and Shah Safy ad-Din, defining the frontier between the Turkish and the Persian empires. This treaty perpetuated the division of Kurdistan between the two countries.” (Jwaideh The Kurdish Nationalist Movement S.39) „Danach [nach der Schlacht von Çaldıran, G.B.] wurde im Jahre 1639 das Kasr-i Sirin-Abkommen zwischen dem osmanischen Sultan Murat IV. und dem iranischen Schah Abbas II. unterzeichnet, das die Zweiteilung Kurdistans beinhaltet.“ (Kurdistan-Komitee Bericht über die Lage in Kurdistan S.9) “The division was incorporated in an agreement concluded in 1639 by Shah Abbas and the Ottoman Sultan Murad IV. [...]” (Ghassemlou Kurdistan and the Kurds S.37) „1638 wurde mit dem Vertrag Kasr-i Schrin die ottomanisch-iranische Grenze gezogen. Kurdistan wurde als Folge der Hegemonie- und Expansionskämpfe beider Großmächte aufgespaltet [...]“ (Türkiye İşçi Köylü Partisi „Die Kurdenfrage“ S.12)
5
Simmel hat die Substanz der modernen Territorialherrschaft genau getroffen: „[...] die Hoheit über ein Gebiet [...] [ist] eine Abstraktion, eine nachträgliche oder vorwegnehmende Formulierung der Personenherrschaft, indem sie außer der Herrschaft über die jeweiligen Personen an ihren jeweiligen Orten besagt: an welchen Orten dieses Gebietes sich auch diese oder andere Personen befinden werden, sie werden immer in gleicher Weise untertan sein. Aus dieser Unendlichkeit sozusagen punktueller Möglichkeiten macht der Begriff der Gebietshoheit ein Kontinuum, er antizipiert mit der lückenlosen Form des Raumes, was als konkreter Inhalt immer nur hier und dort realisiert werden kann. Denn die Staatsfunktion kann immer nur Beherrschung von Personen sein, und die Herrschaft über das Gebiet in demselben Sinne wäre ein Nonsens.“ (Simmel Soziologie S.516) Genau von dieser „Lückenlosigkeit“ der Staatsfunktion war das Osmanische Reich weit entfernt.
6
„Heutzutage ist es wohl schwierig, sich in eine Welt hineinzuversetzen, in der die Dynastie den meisten Menschen das einzig vorstellbare ›politische‹ System war. [...] Nach moderner Vorstellung wird die staatliche Souveränität vollständig, umfassend und gleichmäßig über jeden Quadratmeter eines legal abgegrenzten Territoriums ausgeübt. Früher hingegen, als Staaten durch Zentren definiert wurden, waren die Grenzen durchlässig und unklar; Souveränitäten gingen kaum wahrnehmbar ineinander über.“ (Anderson Die Erfindung der Nation S.27f)
7
de Planhol Kulturgeographische Grundlagen S.69
8
„[...] manche Zustände entziehen sich kartographischer Darstellung: so jene Summierungen verschiedenster materieller und ideeller Hoheitsrechte, die das Wesen des mittelalterlichen ›Personenverbandsstaates‹ gegenüber dem uniformen modernen Flächenstaat ausmachen. Wenn dergleichen trotzdem mit den herkömmlichen Mitteln moderner Kartographie versucht wird [...], so wirkt sich der damit erzeugte optische Eindruck als besonders gefährliche Fehlerquelle für die historische Begriffsbildung aus.“ (von Brandt Werkzeug des Historikers S.28) An einer Lösung, die allen Ansprüchen gerecht würde, gebricht es jedoch. Einen zumindest für die Darstellung orientalischer Herrschaftsverhältnisse interessanten Vorschlag bietet Hütteroth mit einer Karte zu den „Beyliks des 14. Jahrhunderts“ (Hütteroth Türkei S.196 Fig.62), in welcher die jeweiligen Herrschaftsbereiche als sich verdichtende oder verdünnende, teilweise überlappende, von Machtzentren ausgehende Strahlenkränze angedeutet werden.
9
Siehe: İnalcık The Ottoman Empire. The Classical Age S.107
Simmel Soziologie S.466
Halkın Sesi „Die nationale Frage in der Türkei ist ...“ S.14
Khalil Kurden heute S.17f; der in diesem Zitat fälschlicherweise als Vertragspartner genannte Schah Abbas II. bestieg den Safavidenthron erst 1642. Siehe: Roemer Persien auf dem Weg in die Neuzeit S.339
Ibrahim Die kurdische Nationalbewegung im Irak S.114; weitere Stellen dieser Art finden sich bei: More Les Kurdes aujourd'hui S.50; Sönmez Geschichte der Kurden S.54; Arfa The Kurds S.16, was natürlich nur ein Reflex der entsprechenden Stellen aus den historischen Standardwerken ist, siehe z.B.: Roemer Persien auf dem Weg in die Neuzeit S.335 oder Shaw „Das Osmanische Reich und die moderne Türkei“ S.105; letzterer behauptet sogar, 1639 sei die „moderne türkisch-iranische“ Grenze festgelegt worden.
“Treaty of Peace and Frontiers: The Ottoman Emire and Persia, 17 May 1639” in: Hurewitz The Middle East ... in World Politics. Vol.1, Dokument 11, S.25-28
Siehe das Zitat von Anderson weiter oben S.119 Anm.6
„Der iranische Staat blieb im wesentlichen während der letzten Jahrhunderte eine Angelegenheit der Nomaden, da die Dynastien eine eigentümliche nomadische Mentalität bewahrten.“ (de Planhol Kulturgeographische Grundlagen S.280) Symptomatisch hierfür auch folgende Feststellung, die ein Beobachter zu Anfang dieses Jahrhunderts traf: «Le Gouvernement persan ne s'immisce en rien dans l'administration du peuple kurde; chaque tribu kurde a un chef, et ce chef en est le maître absolu, l'administrateur autocrate et le juge unique. Les chefs des tribus paient au Gouvernement persan une somme précise annuelle pour tributs et impôts, et c'est lá toute la dépendance et la marque de la sujétion.» (Arakélian „Les Kurdes en Perse“ S.149) Siehe auch das Zitat von Rudolph/Salāh weiter oben auf S.105 Anm.32
Der britische Kommissar in der gemischten Grenzziehungskommission bemerkte ironisch: “The fixing of a frontier was however repugnant to the finer feelings of the Kurds, and from ‘evidence received’ we were left in no doubt that most of our pillars survived their erection a bare twenty-four hours.” (Ryder „The Demarcation of the Turco-Persian Boundary“ S.234f)
Z.B.: Küchler Öffentliche Meinung S.103 und S.110; Sozialistische Partei Türkisch-Kurdistans Zur Situation in unserer Heimat S.8 und S.10; Sahin „Kurdistan vor der Neuaufteilung“ S.25; Hassanpour The Language Factor S.50 und S.56; Nezan „Die Kurden unter der osmanischen Herrschaft“ S.106; bei den beiden letzteren werden diese Begriffe sogar als Kapitelüberschriften benutzt.
“As regards the dislike of frontiers by Kurds, they have conception of frontiers which is different from ours, but is quite reasonable. According to them, sovereignty is not vested in land but in human beings. [...] If a Turkish tribe occupies a valley, that valley becomes Turkish so long as they are there [...]” (Ryder „The Demarcation of the Turco-Persian Boundary“ S.238; diese Beobachtung wurde von Sir Arnold Wilson während der Diskussion über Ryders Vortrag vor der Royal Geographical Society nachgetragen.)
Lindner stellt fest: “[...] the control of nomads rests upon the ability to find them. [...] In fact, it took the introduction of the airplaine to Iraq in 1920 to solve the problems of finding and controlling nomads and thus end a tradition of political independence which had stretched over three millennia. The use of airpower to offset the nomads' most powerful weapons, mobility and the surprise attack, has brought them under effective control.” (Lindner „What Was a Nomadic Tribe?“ S.691) So berichtet z.B. Bobek vom Schicksal des Herki-Stammes, der Mitte der 30er Jahre nicht mehr seine angestammten Sommerweiden im Sat Dağı beziehen durfte, weil diese nun jenseits der irakisch-türkische Grenze lagen. Siehe: Bobek „Forschungen im zentralkurdischen Hochgebirge“ S.218
Daran sollte sich auf Jahrhunderte nichts ändern, man höre die Darstellung Longriggs für das Jahr 1900: “The Kurdish areas of Mosul wilayat, as of Van beyond it, resembled Ardalan and Kirmanshah [...] and between them there was constant intercourse, traffic, intermarriage, feuds or alliances in which nominal nationality was unconsidered. Caravan routes ran everywhere across the frontier zone.” (Longrigg ‘Iraq, 1900 to 1950 S.14)
Ich betone den Aspekt des Anspruchs auf Herrschaft, weil die konkrete Ausübung der Herrschaft nach wie vor in den Händen der regionalen Emire und Chefs der Stammeskonföderationen lag; es wurde nur festgelegt, wem die Betreffenden ihre ultimative Loyalität zu geloben hatten.
Bagdad war 1623 durch einen Aufstand der Janitscharengarnison an die Safaviden gefallen. Um es zurückzuerobern, bedurfte es des ganzen Reichsheeres unter persönlicher Führung des Sultans. 1704 begann die Ära der mamlukischen Regenten, die Bagdad bis 1831 in erblicher Linie innehatten. Siehe: Duri „Stichwort: Baghdād“ S.904f
Gegen Persien wurden zwischen 1514 und 1779 zehn Kriege geführt, die teilweise bis zu sechszehn Jahre währten. Mit Rußland kam es in den Jahren 1678 bis 1812 siebenmal zum Krieg. Siehe die ausführliche Zeittafel bei: Matuz Das Osmanische Reich S.293-303
Siehe: Minorsky „Stichwort: Kurden“ S.1227
In Kurdistan hielt sich diese — selbst aus osmanischer Sicht — anachronistische Lehensform hartnäckig bis zur endgültigen Aufhebung des timar-Wesens im Rahmen der Militärreformen unter Mahmud II. (1831). Siehe: Matuz Das Osmanische Reich S.222f
Hütteroth sagt z.B. über die Langzeitauswirkungen der zerstörerischen celali-Aufstände: „Der innerstaatliche Verfall berührte [...] die Lebensweise der stammesmäßig organisierten, mehr oder weniger nomadischen Gruppen nur insofern, als sie damit selbständiger wurden.“ (Hütteroth Ländliche Siedlungen im südlichen Inneranatolien S.211)
Nach Hinz enthielt das Hebebuch Uzun Hasans für die Provinz Diyarbakır keine Angaben über Gewürze, was er für ein sicheres Indiz hält, daß der indische Gewürzhandel andere Routen benutzte. Siehe: Hinz „Das Steuerwesen Ostanatoliens“ S.199
“The silk caravans from Iran would arrive at Aleppo by way of Erzurum, following the Euphrates valley, or more often along the Tabriz-Van-Bitlis-Diyarbakır-Birecik route.” (İnalcık „The Ottoman Economic Mind“ S.211)