Max sein SciFi-Blog

Übersicht

Hier finden sich die folgenden Rezensionen (ein Klick auf das entsprechende Cover führt direkt zum gewünschten Buch):

Hinweis am Rande:

Meine Bewertungsskala eicht sich an Werken wie The left hand of darkness von LeGuin, Es ist nicht leicht ein Gott zu sein von den Strugatzkis oder Eden von Lem. Die bekommen von mir volle fünf Sterne.

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Der erste Satz (und der zweite)
„Ein geiler Arsch rettete Calvary Doyle das Leben. Der geile Arsch zockelte, zusammen mit dem auch nicht üblen Rest, die Marylebone Road entlang, Richtung Park.“

2021-01-17
Ein zweiter Band einer Roman-Serie – leider sagt das fast schon alles über dieses Buch. Der erste Band Hologrammatica war recht aufregend gewesen, er spielte mit dem Cyborg-Thema, ließ Geschlechterwechsel im Minutentakt zu und blieb bis zum Schluss rätselhaft, unvorhersehbar. Also habe ich es gewagt, auch Band 2 zu lesen. Immerhin macht Hillenbrand nicht den Fehler, einfach weiterzuerzählen, wo Band 1 aufgehört hat, sondern wechselt die Hauptfigur. Fran – in Band 1 nur eine, wenn auch wichtige Nebenfigur – wird zur Hauptdarsteller*in (hier macht das Gender-Sternchen 120 Prozent Sinn). Und es braucht eine Weile, bis man merkt, dass das Buch die vorige Geschichte dann doch weitererzählt. Aber schon der Eröffnungsclou, dass nur seine reflexhafte Spannerlust dem Opfer eines Anschlags das Leben rettet, weil er seinen Kopf dem „geilen Arsch“ hinterher dreht und so die ihm zugedachte Kugel sein Gehirn nicht gänzlich zerstört, erweist sich später als Unsinn. Denn die unendlich kluge KI, die die Killerdrohne steuerte, wollte ohnehin, dass das Opfer überlebt, Ziel des Anschlags war nämlich, sein Gehirn gerade so sehr zu beschädigen, dass es durch einen Quantencomputer ersetzen werden musste. Der „saftige“ Start – nichts als überflüssige Effekthascherei. Die ganze Geschichte mit den hochleistungsfähigen Quantencomputern als Gehirnersatz war schon der Clou des ersten Bands, dieser Dreh machte Körperwechsel erst möglich, Frau wird zu Mann, zu Frau usw. Man darf allerdings nicht darüber nachdenken, dass Computer Strom brauchen und daher die „Quants“ (Träger eines Gehirnersatzes) eigentlich regelmäßig Akkus aufladen müssten – was im Roman nie geschieht – aber ich habe in Band 1 gern darüber hinweg gesehen, also tue ich es hier auch. Leider fängt Hillenbrand mit diesen Körperwechseln nichts mehr an, was wirklich für die Geschichte wesentlich wäre. An einer Stelle gerät Hauptfigur Fran ziemlich in Stress, weil er/sie unbedingt in ein weibliches Gefäß wechseln muss, um eine bestimmte Person zu etwas zu verführen, was diese sonst angeblich nicht getan hätte. Nur ist diese Person ebenfalls ein Quant und daher – wie im Roman vorgegeben wird – „genderfluide“, also gar nicht binär festgelegt. Wozu dieser Körperwechsel gut war, zumal Fran sich am Ende die gewünschte Kooperation einfach mit einem Haufen Geld erkauft: egal. Genauso überflüssig ein ganzes Kapitel, das davon handelt, dass ein allmachtsverliebter Tycoon einen japanischen Hacker in den Tod hetzt, weil er bei ihm das Geheimnis des ewigen Lebens erhaschen will. Dass der Tycoon böse, böse und ganz erzböse ist, hatte man auch schon vorher kapiert. Und besonders überflüssig ist die Parallelhandlung, die in einem virtuellen Fantasy-Universum spielt. In Band 1 gab es ein ganz ähnliches Muster, aber dort gab die virtuelle Handlung der heimlichen und eigentlichen Heldin des Romans, Juliette Perrot, den notwendigen Raum, um ihre Geschichte zu entfalten. Hier ist die virtuelle Fantasyhandlung schon nach wenigen Kapitelhäppchen durchschaubar und für den Plot ohne Belang. Ach ja und der böse, böse Tycoon entgeht am Ende seiner gerechten Strafe nicht, selbst wenn dabei die Logik arg strapaziert werden muss. Alles in allem erinnert mich das Buch sehr an die Schwächen von Star Wars Teil 2, weil hier eben nur die Stränge von Teil 1 weitergeführt werden, aber nichts zu Ende erzählt werden darf, da ja noch Teil 3 kommen muss. Hillenbrand beherrscht das Schreibhandwerk souverän, produziert aber viel Massenware. Mein Fazit: Lest Hologrammatica und lasst diesen seriellen Aufguss beiseite!

Tom Hillenbrand
Qube

Köln 2020


kann man lesen

Buchcover

© Kiepenheuer und
Witsch

Paperback (12 €)
545 Seiten
ISBN 978-3-462-05440-8

Der erste Satz (und der zweite)
„Marnie Calvert nahm den Geruch schon im Wagen wahr. Er drang von außen durch die Lüftungsschlitze herein: ein Gemisch aus verkohltem Holz, oxidiertem Metall und geschmolzenem Kunststoff – Lino­leum vielleicht oder Teppichbeschichtung.“

2020-08-10
Dieses Buch habe ich nicht gelesen, sondern mir als Hörbuch vorlesen lassen. Die Hörbuchproduktion ist tadellos, der Vorleser ein talentierter Profi. Daran lag es also nicht, dass mich das Buch unzufrieden zurück ließ. Der Plot bewegt sich am Rande des eigentlichen ScienceFiction-Genres – die ganze Geschichte spielt nämlich in der unveränderten Gegenwart des Jahres 2015. Nur wird in dieser Gegenwart eine Technik entdeckt, die Blicke in die Zukunft erlaubt. Und diese Technik gerät in die Hände einer skrupellosen Geheimorganisation, deren Wurzeln selbstredend auf die Hitlerzeit zurückreichen. Und ruchlos, wie die Bösen nun einmal sind, manipulieren sie die Zeitlinie so, dass sie ihre autoritäre Eliteherrschaft im Jahr 2024 errichten können. Der Trick ist, dass sie mit dem Blick in die Zukunft all jene Gegner identifizieren, die sie 2024 oder davor aufhalten könnten, und sie 2015 einfach ermorden lassen. Tja und das hätte ja alles geklappt, wenn sie nicht Sam Dryden auf die Füsse getreten hätten. Denn gegen diesen einsamen Helden ist kein Kraut gewachsen. Sam Dryden ist nämlich ein ex-Elite-Soldat, ein Navy Seal oder ein Was-auch-immer, der es zur Not nur mit einem Bleistift in der Hand mit drei schwer bewaffneten Profikillern aufnimmt. Und die Bösen machen den Fehler, dass sie Drydens Army-Kameradin Claire entführen. Dryden nimmt den Kampf auf und siehe da: Er gewinnt. Im Finale erledigt er nicht nur 10 schwer bewaffnete Killer im Alleingang, sondern trickst auch noch einen Kampfhubschrauber zu Fuß mit dem guten alten „Links blinken und rechts abbiegen“-Trick aus. Das alles nimmt man ja gern hin, ist eigentlich genau wie damals in den unzähligen Pferdeopern, da erledigten auch die Helden im Alleingang ganze Indianerstämme (sorry, ich meine natürlich lose Sozialverbände indigener Ureinwohner*innen) und holten mit einem Schuß zwei Stuntmen von den Pferden. Aber hier geht einem das Morden dann doch irgendwann auf den Wecker. Ich habe nicht genau mit gezählt, aber Dryden bringt es in den drei Tagen, die Handlung umfasst, auf rund 25 Tötungen. Irgendwo mittendrin sagt Dryden zu einem seiner Unterstützer: „Wir sind die Guten!“, nachdem er gerade wieder eine Reihe von gedungenen Totschlägern erschossen hat. Die größte Schwäche ist aber, dass Lee bei allem Erzähltalent keine wirklichen Charaktere schildert, sondern stoische Actionfiguren durch die Handlung dirigiert. Und obwohl es in dem Roman auch zwei durchaus schlagkräftige weibliche Akteurinnen, Claire und Marnie, gibt, sind Frauen nur dekoratives Beiwerk. Marnie verliebt sich andeutungsweise in Dryden, aber mehr als Beschützen und aus der Klemme raushauen ist von Drydens Seite nicht drin. Die ganze Geschichte ist sehr spannend, die Leser*in wird vom allwissenden Erzähler meist mit etwas mehr Informationen gefüttert als der Held selbst und sieht so das Unheil immer schon kommen. Zwei Mal wird man aber auch selbst vom Autor sehr gekonnt an der Nase herum geführt, das ist gutes Handwerk. Alles in allem trotzdem nur ein mittelmäßiges Buch, die Figuren bleiben zu eindimensional und lassen einen letztlich kalt.

Patrick Lee
Das Signal

Hamburg 2016


kann man lesen

Buchcover

© Rowohlt Verlag

Paperback (10 €)
464 Seiten
ISBN 978-3-499-27150-2

Der erste Satz (und der zweite)
„Am 7. August 1904 wurde der Schnellzug Nummer 11 der Missouri Pacific Railroad von einer Sturzflut erfasst, als er gerade auf seinem Weg nach Pueblo, Colorado, eine Bockbrücke überquerte. Eine Wasserwand schwemmte vier der sechs Waggons fort, und die sterblichen Überreste vornehm gekleideter Männer und Frauen wurden schlammverkrustet in bis zu fünfundreißig Kilometern Entfernung gefunden.“

2020-05-23
Der Originaltitel: “The Municipalists” ist eigentlich viel treffender, denn Municipalist ist eine*r, die sich um die Belange des Municipiums – der Stadt, jeder Stadt – kümmert. Der Metropolist hingegen kann nur in der einen Megacity namens Metropolis, die hier an die Stelle von New York getreten ist, gedeihen und erinnert irgendwie an Polizist. Und ein Polizist ist Henry, der Held wider Willen dieses erfreulich kurzen Romans, nun ganz bestimmt nicht. Vielmehr ist er das volle Klischee eines freudlosen Verwaltungshengstes, verknöchert und regelfixiert. Und er kümmert sich um die Belange von Kommunen, erneuert Bahnhöfe, optimiert Abwasserschächte, allerdings macht er seinen Job in dieser altered reality story in einer Bundesbehörde. Diese Mega-Behörde namens BKI entscheidet über alles, ob und wo eine Schule, ein Straßenbahnlinie oder was auch immer an Infrastruktur eingerichtet wird. Eigentlich ist das BKI damit eine Superregierung. Politik gibt es in diesem Szenario nicht wirklich, außer dass es eine 18jährige Bürgermeistertochter gibt, die mit dem Superschurken gemeinsame Sache macht. Dieser Superschurke ist nun vor allem deshalb ein Schurke, weil er soetwas wie ein Kommunist ist, allerdings die amerikanische Vorstellung von Kommunisten: Er will doch tatsächlich eine gesicherte wirtschaftliche Existenz für alle Menschen, also auch für die Ärmsten der Armen. Die Infrastruktur-Behörde BKI hingegen fördert nur dort die Prosperität, wo bereits Geld sitzt. Sie lässt die Armen ungerührt weiter verarmen, denn wie ein finaler Dialog zwischen dem BKI-Chef und unserem Helden Henry enthüllt, ist die Behörde überzeugt, dass Hilfen für die Armen nur Schaden anrichten – siehe Gentrifizierung: Stadtentwicklung nutzt nur der Bohème, die Alteingesessenen aber verlieren ihre Wohnungen. Also besser auch keine Obdachlosenunterkünfte bauen, das schadet den Betroffenen nur. Der „Schurke“ ist der BKI-Chef von Metropolis und hat erkannt, dass das System nicht zu reformieren ist. Also setzt er auf Terror und formt aus seinen Mitarbeiter*innen eine fanatische Untergrundarmee, um einen Systemcrash herbeizubomben. Aufhalten können ihn nur Henry und OWEN. Denn eigentlich ist dieser Roman ein Buddy-Film – ungleiches Paar wächst bei der Rettung der Welt zusammen. OWEN ist die erste KI, die eine Persönlichkeit entwickelt. Sie tritt via Hologramm in der Geschichte als Akteur auf. Das ist die einzige Stelle, wo man einiges an suspension of disbelief nötig hat, denn OWEN projeziert sich überall hin über eine Krawattennadel, die Henry trägt. Und diese hat auch über tausende Kilometer immer eine perfekte Datenverbindung zum Supercomputer und muss in der ganzen Geschichte nicht einmal aufgeladen werden. Aber egal. Im letzten Viertel erweist sich OWEN als durch einen Virus des Schurken manipuliert, weshalb der korrekte Henry seinen Kumpel fallen lässt. Erst ganz am Ende erkennt Henry, dass jede Wahrheit, die sich selbst absolut setzt, zum Terror wird. Einer der wenigen Momente, wo der Roman jenseits von Zynismus Tiefgang entwickelt. Geschlechterrollen werden in diesem Szenario nicht ernstlich verhandelt, nur die Bürgermeistertochter darf einmal mit ihrer Gefühlswelt sichtbar werden, aber nur um sich als durch ihre Gefühle fehlgeleitete Terrorbraut zu erweisen. Henrys Persönlichkeit wird auf ein Kindheitstrauma reduziert, den Verlust beider Eltern bei einem Zugunglück, weshalb er Kontrollfreak mit einem Eisenbahnfetisch ist. OWEN, durch den Virus unberechenbar gemacht, ist ganz egoistischer Hedonist, der sich selbst spezielle Programme schreibt, um einen Rausch mit Katerfolgen zu erleben. OWEN säuft sich also durch die Geschichte, die in weiten Teilen wüste Action mit Explosionen und Kugelhagel ist. Alles in allem kann man das lesen, ohne dass sich einem die Fußnägel ablösen, aber eine Pageturner ist es nicht, vor allem der klamaukhafte Humor, den der anarchische OWEN produziert, ist bestenfalls lauwarm.

Seth Fried
Der Metropolist

München 2019


kann man lesen

Buchcover

© Heyne Verlag

Paperback (10 €)
317 Seiten
ISBN 978-3-453-32014-7

Der erste Satz (und der zweite)
„Dechert stand am Kraterrand und schaute nach unten. Dionysius war ein Monstrum, drei Kilometer tief und weit genug, um Manhattan zu schlucken.“

2020-05-10
Routiniert geschriebener Whodunnit-Thriller, der sich unglücklicherweise unter der Hand in einen Militär-SciFi verwandelt. Einmal mehr rettet ein gebrochener Held die Seinen und nebenbei die Welt. Nur geht es elendig lang um das Kriegstrauma des Helden. Viel spannender wäre es gewesen, wenn der Autor versucht hätte, die ansatzweise vorhandene Liebesgeschichte zwischen dem Held und seiner Nummer zwei, der abgebrühten Sicherheitschefin seiner Mondstation, zu entwickeln. Aber Pedreira erlaubt dem Helden nur Tränen der Erleichterung, als sie final gerettet unter den Überlebenden ist. Sehr schade, Pedreira hat durchaus lyrische Qualitäten, die er aber leider vor allem zum Ausmalen der inneren Zerfressenheit und des abgrundtiefen Unglücks in der Seele des Helden nutzt. Als der Plot ungefähr auf der Hälfte der Strecke in die altbackenen Gleise des Militär-SciFi gleitet, wird es arg schematisch. Schon zuvor war viel Ablästern über die „Sesselpupser“ – ja, selbst auf dieses alberne Wort konnte nicht verzichtet werden – der Verwaltung dabei. Dann aber ist es ganz die Heldengeschichte der verratenen Frontschweine, die von unfähigen oder gewissenlosen Vorgesetzten in den Tod gehetzt werden, sozusagen die dystopische Variante der glorreichen Armee, die gegen alle Widerstände siegt. Hier schafft es der Held natürlich, die große Verschwörung der Geheimdienste, unfähigen & gewissenlosen Politiker (nein, in weiblicher Form kommen sie nicht vor) und sonstiger Arschlöcher aufzudecken und einen sinnlosen Krieg zu verhindern. Anti-Kriegsprosa geht anders. Geschlechterbeziehungen kommen einfach nicht vor – wie gesagt, die Sicherheitschefin als einzige weibliche Figur bleibt ein unnahbarer Klotz, halt ein echter Mann, nur ohne Schwanz. Männer unter sich, könnte man sagen. Der Roman liest sich aber trotzdem ganz gut weg, etwas längliche Ausschilderungspassagen kann man gefahrlos überspringen, sie dienen allein der Colorierung. Es bleibt die meiste Zeit spannend, nur kommt das furiose Finale 20 Seiten vor dem Ende, der Nachklapp soll schön zynisch sein, ist aber eher mager. Fazit: kann man lesen. Wer keinen Tiefgang verlangt, wird's nicht bereuen.

David Pedreira
Killing Moon

Köln 2018


kann man lesen

Buchcover

© Bastei Lübbe Verlag

Paperback (10 €)
349 Seiten
ISBN 978-3-404-17696-0

Der erste Satz (und der zweite)
„‚Mom, darf ich mir die Sterne anschauen?‘ Tessa sah von ihrer kleinen Werkbank auf und zu ihrer noch kleineren Tochter herunter.“

2020-05-01
Kein schlechtes Buch, nur unfassbar langweilig. Nein, „langweilig“ ist das falsche Wort, dafür braucht es ein komplett antiquiertes Wort wie „betulich“. Chambers war mit dem tollen Titel ihres Erstlings „The Long Way to a Small, Angry Planet“ angenehm aufgefallen, bloß hatte schon dieses vielgepriesene Werk einen Aufregerfaktor dicht bei Null, alles bewegt sich im Rahmen des absolut Erwartbaren und Erbaulichen. Immerhin gab es bei Small, Angry Planet hin und wieder Aktion. Bei Unter uns die Nacht passiert ausführlich nichts. Auch das kann ja große Kunst sein. Der Action-Faktor etwa von Solaris ist ja auch ausgesprochen niedrig und trotzdem erfährt man von ungeahnten Tiefen des Menschlichen. Nicht so bei Chambers. Ihre Miniaturen über Tessa, Eyas, Isabel, Kip und Sawyer wollen Entwicklungsstudien besagter Persönlichkeiten sein, was aber allenfalls bei den ersten beiden in Ansätzen gelingt. Chambers hat erkennbar große Schwierigkeiten empathisch mit männlichen Charakteren umzugehen, insbesondere die Zeichnung der Figur des Sawyers, der einen ziemlich unglaubwürdigen Tod sterben muss, wirkt wie eine kalte Stilübung. Man darf auch nicht allzulang über manches technische Detail nachdenken, das für den Plot wohl erforderlich schien, aber kaum einleuchten will. Gleich zu Anfang wird ein riesiges Weltraumhabitat leck gerissen und dekomprimiert tutto completto, Menschen sterben zu zehntausenden. Ausgelöst haben soll das alles ein fehlgeleitetes Shuttle, das aufprallte und die Hülle aufriss. Wie das bei einem in rotierende Segmente aufgeteiltem Schiff passieren kann, das nicht aus einem einzigen Innenraum besteht, sondern viele wahrscheinlich mit Schotten gegeneinander abgegrenzte Einzelräume besitzt, bleibt unerklärt. Aber Schwamm drüber – auch die Titanic ist untergegangen, trotz ihrer vielen mit Schotten abgegrenzten Rumpfsektionen. Nur wie es dann sein kann, dass in diesem total zerstörten Schiff Wohnräume auch nach Jahren noch so luftdicht verriegelt sind, dass sie Atmosphärendruck enthalten – das nicht zu wissen, wird dem Anfänger Sawyer zum Verhängnis –, da hilft dann auch keine noch so gutwillige suspension of disbelief. Entweder das Schiff wird mit einem Leck komplett dekomprimiert oder die Wohnräume haben luftdichte Schotten und können den Schaden solch eines Unglücks eindämmen. Beides zusammen geht nicht. Völlig verzichtbar sind die Einschübe, die eine Alien-Perspektive auf die Reste der menschlichen Zivilisation der Zukunft bieten sollen. Dieser Part, der von einer Alien-Ethnologin handelt, die die menschlichen Weltraumhabitate zu Forschungszwecken besucht, ist noch handlungsärmer und langweiliger als der Rest. Es gibt gleichwohl auch Passagen dichter Schilderung, die mich gerührt haben, wie etwa die Beerdigung Sawyers, die überzeugend von einem Versuch der Wiederherstellung verloren gegangener Würde, der Sinngebung des Sinnlosen erzählt. Insgesamt jedoch versagt der Roman bei dem Entwurf einer Gesellschaft, die sich radikal am gesamtgesellschaftlichen Nutzen und Gebrauchs­wert orientiert und die Warenform hinter sich gelassen hat. Unter der Messlatte, die Ursula LeGuin mit Planet der Habenichtse gelegt hat, läuft dieser Roman glatt durch.

Becky Chambers
Unter uns die Nacht

Frankfurt / M. 2019


Kann man lesen, wenn nichts anderes da ist.

Buchcover

© Fischer Verlag

Paperback (9,99 €)
462 Seiten
ISBN 978-3-596-70262-6

Der erste Satz (und der zweite)
„Wenn man lange genug in den Abgrund schaut, wird einen der Abgrund verschlingen. Davon war Coanas Erzeuger immer überzeugt.“

2020-02-29
Ich lese in aller Regel auch schlechte Bücher zu Ende, allein schon, weil ich wissen will, ob ich wirklich die Wendungen des Plots komplett vorhersagen kann. Dieses Buch nun ist so schlecht, dass ich es nicht fertig gebracht habe, es bis zu Ende anzuhören. Ja, hören, denn diesen Roman habe ich als Hörbuch auf Spotify entdeckt. (Spotify hat eine sehr beachtliche Hörbuch-Bibliothek, die allerdings absolut erbärmlich erschlossen ist, aber das ist ein anderes Thema.) Ein männlicher Held mit Neigung zum Ungehorsam rettet das Universum. Selbiges ist bedroht durch eine Finsternis, die alles verschlingt, was sich ihr in den Weg stellt. Bald stellt sich heraus, dass es eigentlich nur ein hirnarmer Schwarm überlichtschneller „Fische“ ist, die dummerweise Sonnen als Hauptspeise verschlingen und Gasplaneten gerne als Dessert. „Die wollen nur spielen.“ Das dumme Militär wirft sich eifrig in die Schlacht und wird zerschmettert. Da muss der Held ran, der allein die rettende Idee hat. So weit, so MacGyver. Ich habe eigentlich nichts gegen „schlechte“ Bücher in dem Sinne, dass sie eine banale Standard-Handlung einigermaßen gekonnt erzählen. Perplies jedoch zeigt schon auf den ersten Seiten, dass ihm jede Idee fehlt, wie eine zukünftige Welt aussehen könnte. Selbst wenn er fremde Wesen von fernsten Planeten erfindet, spielt ein Lächeln um ihre Mundwinkel, wenn sie erfreut sind. Alles wird ihm zum Mensch – und zwar zum Mensch des 20. Jahrhunderts. Ein Crewmitglied, das einer nicht menschlichen Spezies („Rhinoa“) entstammt und als eine schrankgroße weibliche Variante des Hulk geschildert wird, trägt ihr Haar „militärisch kurz“. Ignoriert man einmal kurz die Frage, warum alle Aliens Haare auf dem Kopf tragen, war kurzes Haar eigentlich nur im 20. Jahrhundert klar mit „Militär“ assoziiert. Weder Alexander der Große, noch General Custer trugen kurze Haare. Aber Perplies bringt es fertig, selbst eine sechs Meter große Qualle mit telepathisch begabtem Megahirn in seiner Schilderung zum Mensch zu machen, indem sie bei passender Gelegenheit mit „herrischer Geste“ andere Artgenossen „zum Schweigen“ bringt. Besagte Wesen verständigen sich durch Geisteskommunikation, haben keine Augen, keinen Mund und keine Arme – aber benutzen „herrische Gesten“. Noch trauriger ist die Schilderung der „Fleuryl“, einer geschlechtslosen pflanzlichen Spezies, die gern mit Blättern raschelt. Hier wollte sich Perplies durch Verwendung eigens erfundener geschlechtsneutraler Pronomen („sieer“ statt „er“ oder „sie“) auf Höhe des Genderdiskurses zeigen. Tatsächlich jedoch wird keine andere Figur so eindeutig „weiblich“ geschildert, wie die Fleuryl-Diplomatenpersona, die in Perplies' Romanwelt die Verkommenheit der Politik darstellen darf. Die ganze Geschichte wird allein von hölzernen Dialogen vorangetrieben und ist so vorhersehbar, dass man in der Mitte des Buches bereits klar weiß, was am Ende passiert – genau, die 50 verschütteten Barakkaraner auf dem Erzminenmond müssen noch gerettet werden. Auch das erledigt der Held zuverlässig. Hätte ich vorher gewusst, dass der Autor auch einige Bücher zum Perry-Rhodan-Universum beigetragen hat, hätte ich gleich die Finger davon gelassen. Hier vergebe ich erstmalig keinen einzigen Stern.

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Bernd Perplies
Am Abgrund der Unendlichkeit

Köln 2019


unterirdisch

Buchcover

© Bastei Lübbe Verlag

Paperback (10 €)
368 Seiten
ISBN 978-3404208753