„Die Rolle türkischer Vereine“

„Die Rolle türkischer Vereine in der multikulturellen Gesellschaft.
Ein Forschungsbericht aus Hannover“

Günter Max Behrendt

An der Universität Hannover wurde in den letzten drei Jahren ein empirisches Forschungsprojekt durchgeführt über die Entstehung ethnischer communities in der BRD. Konkret ging es um die Frage, wie insbesondere die türkischen communities in Hannover entstanden sind und was sie den Beteiligten bedeuten.[1] Es ging also nicht nur um die objektive Seite des Prozesses, beispielsweise die Geschichte von Vereinen und die Analyse ihrer Arbeit, sondern ebenso um die subjektive Perspektive der beteiligten Menschen und Individuen. Gerade in den hierzu geführten, sehr eingehenden Interviews mit türkischstämmigen MigrantInnen der verschiedenen Generationen machten wir, das Forschungsteam, eine zunächst bittere, langfristig aber sehr produktive Erfahrung: Wir mußten feststellen, daß unsere Forschungsabsicht zumindest zu einem beachtlichen Teil an der Lebensrealität unserer Gesprächspartner vorbeiging.

Ausgangspunkt des Projekts war nämlich anfänglich eine alte Streitfrage der Migrationsforschung gewesen: Wird die Entstehung ethnischer communities (manchmal auch „ethnische Kolonien“ genannt) zur Ghettobildung führen – mit all ihren bedrohlichen Folgen für die Gesamtgesellschaft – oder weist dieser Prozeß eine grundsätzlich zu fördernde Tendenz auf, indem er die Beteiligten handlungsfähiger macht und ihr Selbstbewußtsein stärkt (neudeutsch: „Empowerment“)? Mit unserer Forschung über die türkischstämmigen HannoveranerInnen wollten wir nicht zuletzt auf diese Frage eine Antwort finden. Tatsächlich aber ist sie in dieser Form gar nicht zu beantworten, die Frage ist in ihre Schwarz/Weiß-Logik schlicht falsch gestellt. Im Kern – so mußten wir erkennen – steckte dahinter auch bei uns ein Denken in gesellschaftlichen Großprozessen, das meint, von der Vermittlung in die alltägliche Praxis abstrahieren zu können und die Bildung von „ethnischen communities“ schlechthin erfassen und beurteilen zu können.

In der Realität jedoch hat sich eine Struktur herausgebildet, die weder mit dem Schlagwort „Ghetto“, noch mit dem Begriff „Empowerment“ eindeutig zu fassen ist. Während jenes Schwarz-Weiß-Modell nur die Alternativen „permanente Abwendung“ von oder „endgültige Hinwendung“ zur BRD-Gesellschaft kennt, praktiziert ein großer Teil der aus der Türkei eingewanderten Bevölkerung ein auf Dauer angelegtes Drittes: Man wendet sich auf einigen zentralen Gebieten zu und entwickelt alle hierfür notwendigen Kompetenzen. Auf anderen Gebieten jedoch verweigert man eine Identifizierung mit den bestehenden Strukturen, die einem nur allzu deutlich zu verstehen geben, daß man letztlich unerwünscht ist. Der britische Theoretiker Stuart Hall hat diese Entwicklung treffend als Prozeß der Herausbildung „hybrider Diaspora-Identitäten“ beschrieben.

Für unseren Zusammenhang bedeutet Halls „Hybriditäts“-These, daß jeder einzelne Fall von community-Bildung, letztlich jeder einzelne Verein und jede informelle Jugendgang, in sich widersprüchliche und nicht auf einen Nenner zu bringende Varianten der Orientierung auf die BRD-Gesellschaft entwikelt. Es ist weder möglich, globale Aussagen der Art zu treffen, daß die türkischstämmigen HannoveranerInnen dazu neigen, sich in ihren selbstgeschaffenen Vereinen und Treffpunkten wechselseitig in Ablehnung und Feindseligkeit gegenüber der alteingesessenen Bevölkerung zu bestärken, noch können all diese Zusammenhänge pauschal von solchen Anschuldigungen freigesprochen werden. Entsprechendes gilt auch auf der Ebene der einzelnen Individuen. In unseren Interviews zeigten sich bei ein und denselben Personen sowohl Aspekte konstruktiver Bezugnahme auf die Mehrheitsgesellschaft wie auch einzelne Stränge selbstmitleidiger Schuldzuweisungen gegen die Altbevölkerung, die auf ein bequemes Sich-Einrichten in der Opferrolle hindeuten. Letztlich mußten wir erkennen, daß die Frage von Hinwendung oder Abwendung niemals ein für alle Mal entschieden wird, sie ist und bleibt ein offenes Feld, in welchem auch ein Verharren in der Grauzone zwischen den Polen ein konstruktives Moment sein kann.

Im Rückblick mußte es uns zeitweilig so scheinen, als hätten wir mit der gänzlich überholten Ghetto-Frage nur Zeit verschwendet – gerade auch angesichts des anschwellenden Diskurses über postmoderne Identitäten und Selbst-Konstruktionen. Um so überraschender war es zu sehen, wie das scheinbar so ‚anachronistische‘ Ghetto-Thema in der letzten Zeit plötzlich wieder fröhliche Urstände in der öffentlichen Diskussion feierte. Auf der großen Wohnbund-Tagung im November des letzten Jahres in Berlin konnte man beispielsweise die alten Thesen über Chancen und Risiken der Entstehung von Migranten-Ghettos in unveränderter Form wieder aufeinanderprallen hören. Fast mochte es scheinen, als habe die ganze lange Debatte der 80er Jahre, welche Georg Elwert mit seiner provokativen These von der „Integration durch Binnenintegration“[2] auslöste, nie stattgefunden.

Wirksamer aber noch, vor allem für die breite Öffentlichkeit, war die Wiederbelebung des Ghetto-Themas in Form der Warnung vor einer „islamischen Parallelgesellschaft“, welche islamische Fundamentalisten angeblich in der BRD aufbauten. Ein Auslöser hierfür dürfte die Veröffentlichung der Studie „Verlockender Fundamentalismus“ des Bielefelder Soziologen Wilhelm Heitmeyer gewesen sein, der die Verbreitung religiös fundierter Gewaltbereitschaft bei türkischstämmigen Jugendlichen in NRW zu erfassen versuchte.[3] Seine unheilkündenden Prozentzahlen beflügeln seither die Medien. Für Die Zeit (8.1.1998 S.14) „erklärt sich jeder vierte türkische Jugendliche einverstanden mit dem Satz: ‚Wenn jemand gegend den Islam kämpft, muß man ihn töten.‘“ Noch eindeutiger titelt die Hannoversche Allgemeine Zeitung (3.4.1998 S.9): „Eine Studie über türkische Jugendliche zeigt: Jeder dritte ist gewaltbereit“. Da Heitmeyers Interpretationen bereits in sich tendenziös waren, bedurfte es keines großen Mißbrauchs durch die Medien, hier fügte sich eins zum anderen. Es gibt praktisch keine Tageszeitung, keine Zeitschrift und keinen Fernsehsender, der oder die nicht in großer Aufmachung über den Vormarsch des islamischen Fundamentalismus in der Bundesrepublik berichtet hätte. Auch das sogenannte „Qualitätsfernsehen“ der öffentlich-rechtlichen Sender nahm mit einer ganzen Serie von Dokumentationen und Features teil an der medialen Hetzjagd, in deren Verlauf die simple Gleichung „Fundamentalismus ist gleich Fanatismus, Attentat und Massenmord“ schrittchenweise auf praktisch alle Moscheevereine in Deutschland ausgedehnt wurde. In diesem Rahmen entfaltete sich die These von der Entstehung einer integrationsunwilligen „islamischen Parallelgesellschaft“ zu einem Horrorszenario, gegen das die alten Sorgen vor eine Ghettoisierung geradezu harmlos wirken.[4]

Kardinalfehler aller dieser Diagnosen, Prognosen und Analysen ist, daß jedes Anzeichen einer nicht hundertprozentigen Identifikation mit den Gegebenheiten in der BRD zu einer radikalen Kampfansage gegen die hiesige Gesellschaft umgedeutet wird. Wer hierzulande türkischsprachiges Fernsehen via Satellit konsumiert, der will laut dieser Logik von der BRD-Gesellschaft nichts mehr wissen. Und ein offensives Bekenntnis zum Islam muß, von dieser Warte aus betrachtet, erst recht jede Bereitschaft ausschließen, sich konstruktiv auf die hiesige Verhältnisse einzulassen. Festzustellen und zu dokumentieren, wie wenig solches Denken in Schwarz/Weiß, Ja/Nein, entweder/oder die Lebensrealität der MigrantInnen aus der Türkei trifft, ist vor diesem Hintergrund eines der wichtigsten Ergebnisse unseres Forschungsprojekts. Im letzten Teil des Beitrages soll dies am Beispiel einer biographischen Ausarbeitung konkretisiert werden. Zuvor jedoch braucht es einige Hintergrundinformationen, in welchem Feld man sich bei der Untersuchung der türkischen communities von Hannover bewegt.

Hannover
Die Stadt Hannover hat etwas mehr als eine halbe Million Einwohner, wovon gut 24.000 türkischer Herkunft sind. Unter demographischen Gesichtspunkten, also hinsichtlich der Alterszusammensetzung, des prozentualen Verhältnis' von Männer zu Frauen etc., ist an der türkischen Population in Hannover nichts Außergewöhnliches. Eines unterscheidet sie allerdings doch: Die Zuwanderung aus der Türkei setzte in Hannover – anders als in den meisten anderen westdeutschen Großstädten – schon Anfang der 50er Jahre ein. Der Grund hierfür war, daß die Technische Hochschule Hannover sich damals bei türkischen Ingenieursstudenten großer Beliebtheit erfreute. Von den gut 180 türkischen Staatsbürgern, die im Jahre 1960 in Hannover lebten, waren fast die Hälfte Studenten. Sie, die Studenten, waren es auch, die in eben jenem Jahr 1960 den ersten türkischen Verein in Hannover gründeten: die „Türk Talebe Cemiyeti“ oder zu deutsch: den „Türkischen Studentenverein“. Das heißt, es gab in Hannover schon organisierte Selbsthilfestrukturen, noch bevor der erste sog. „Gastarbeiter“ in der Türkei angeworben wurde. Auch die Herausdifferenzierung einer Art Mittelschicht aus selbstständigen Dienstleistern oder Unternehmern trat in Hannover früher ein: 1964 wurde mit der „Bürotex Export-Import GmbH“ die erste Firma eines ehemaligen Bildungsmigranten gegründet, 1967 tummelten sich schon fünf Anbieter auf dem Türkei-orientierten Export-Import-Sektor. Im selben Jahr eröffnete auch das erste türkische Restaurant in Hannover: das „Bosporus“. Die türkischstämmige Bevölkerungsgruppe von Hannover war also von Anfang an deutlich sozial geschichtet und differenziert. Vor und neben den Arbeitsmigranten gab es immer schon eine schmale Schicht von Akademikerinnen, Geschäftsleuten und Ingenieuren, die auch beim Gründen und Betreiben von Vereinen äußerst aktiv waren.

Heute gibt es insgesamt knapp 50 wirklich aktive türkische Vereine in Hannover. Davon sind acht Sportvereine – mit einer Ausnahme alles Fußballvereine.[5] Die restlichen teilen sich so auf: Acht sind eindeutig religiöse Vereine, zwei sind noch klassische Arbeitervereine. Weitere vier kann man als explizit politisch bezeichnen. Die größte Gruppe jedoch, 17 an der Zahl, bilden die Kultur-, Wohlfahrts- oder Kaffeehausvereine. In den 90er Jahren ist ein neuer Vereinstyp hinzugekommen, und zwar die Lehrer-, Rentner-, Eltern- oder Unternehmervereine. Hiervon sind bis jetzt sieben gegründet worden. Überhaupt scheint das Neugründen von eingetragenen Vereinen ungebrochen beliebt zu sein, seit Beginn des Projekts waren es durchschnittlich vier neue Vereine pro Jahr.

In Gesprächen mit den Vorständen zahlreicher Vereine stach eine Gemeinsamkeit heraus: Sie alle wollen „die Jugend retten“. Damit ist gemeint, daß sie die Generation ihrer Töchter und Söhne vor Drogen, Kriminalität und Sittenlosigkeit bewahren möchten. Unausgesprochen ist damit das Problem berührt, daß kaum einer der türkischen Vereine in Hannover in der Lage ist, diese nachwachsende Generation in das Vereinsleben einzubinden. Eine bemerkenswerte Ausnahme gibt es allerdings, welche auf das Fundamentalismus-Thema zurückführt: Die Moschee der in den Medien so gefürchteten türkischen Islamistenorganisation „Milli Görüş“ betreibt in Hannover gezielte Jugendarbeit, man kümmert sich dort z.B. auch um Straffällige und Drogengefährdete. Die Kellerräume der Moschee – ausgestattet mit Tischtennisplatte und Tresen – ähneln einem gewöhnlichen Jugendzentrum. Und diese Angebote für (männliche) Jugendlichen werden durchaus angenommen, was nicht nur einschlägigen Medienkommentatoren Sorgen bereitet.

Bevor man nun allerdings über Eindämmungsstrategien oder andere Gegenmaßnahmen nachdenkt, sollte man fragen, welche Institutionen eigentlich die von Milli Görüş und anderen Moscheevereinen geleistete Sozialarbeit übernehmen könnten? Dabei geht es nicht einmal so sehr um die Jugendarbeit, weitaus wichtiger ist der Beitrag, den die Moscheevereine auf dem Gebiet der Betreuung alleinstehender Rentner leisten. Sie entlasten damit, ungefragt und unentgeldlich, die eigentlich zuständigen Einrichtungen von einer Aufgabe, welcher sich bislang weder die freien noch die staatlichen Träger auch nur in Ansätzen gestellt haben.[6] Nur sind dies Aspekte des sog. islamischen Fundamentalismus in Deutschland, die selten in die Medien gelangen. Damit soll nicht geleugnet werden, daß in zahlreichen Moscheevereinen – auch solchen, die der Milli Görüş angehören, aber nicht nur dort – äußerst bedenkliche politische Ideale und Gesellschaftsutopien vertreten werden, die sich kaum in Einklang mit einer pluralistischen Demokratie bringen lassen. Diese Tatsache kann weder weggeleugnet werden, noch gibt es hier etwas zu beschönigen. Doch wird man der Komplexität der Lage kaum gerecht, wenn man Moscheen bloß als „Orte der Indoktrination“ verdammt und ausgrenzt. Zweifellos muß es eine öffentliche Auseinandersetzung um die Ziele und die Arbeitsweise islamistischer Trägervereine und Dachorganisationen wie Milli Görüş geben, hierin, und nur hierin, kann ich Heitmeyer voll zustimmen. Nur dürfen dabei auf keine Fall die Fehler der ausgehenden 70er Jahre wiederholt werden, als – unter kräftiger Beihilfe der türkischen Exillinken – die Koranschulen der Islamischen Kulturzentren in der BRD zum Ziel einer wahren Verteufelungskampagne wurden.[7] Denn eine Auseinandersetzung, bei der als Ergebnis die Verurteilung schon vorab feststeht, ist eine Farce.

Frau Güler
Anhand einer biographischen Miniatur aus unserem Projekt soll abschließend versucht werden, die bis hierhin vorgetragenen Thesen von der „Hybridität“, Mehrdeutigkeit und Komplexität der Lebenssituation türkischstämmiger MigrantInnen in der BRD zu konkretisieren. Es geht in diesem letzten Abschnitt um den Lebensentwurf einer 35jährigen Frau und um ihre Antwort auf die zwiespältige Situation, Türkin und Muslimin in Deutschland zu sein.

Unsere Interviewpartnerin – sie trägt hier den fiktiven Namen Frau Güler – kam als Siebenjährige nach Deutschland, als ihre Mutter dem Ehemann in die Arbeitsemigration folgte. Sie lebt seither in Hannover. Sie ist mit einem ebenfalls türkischstämmigen Mann verheiratet, mit dem sie 4 Kinder hat. Frau Güler hat nach Abschluß einer Berufsausbildung noch das Abitur nachgeholt. Sie hat eine feste Anstellung im öffentlichen Dienst, die sie gegenwärtig ruhen läßt, um sich ihren Kindern widmen zu können. Sie nutzt ihre Zeit aber auch, um Deutschkurse in einem Moscheeverein zu geben. Frau Güler ist das, was die Medien eine Fundamentalistin nennen würden. Das heißt, sie ist bekennende Muslimin, trägt selbstbewußt ihr großformatiges Kopftuch und engagiert sich in islamischen Vereinen.

Von ihren Eltern wurde Frau Güler religiös erzogen. Mit ungefähr 10 Jahren schickte der Vater sie zu einer Koranschule, doch ließ sie die „bloß technische“ (Zitat Güler) Form der religiösen Unterrichtung dort innerlich kalt. Ihr Kopftuch beispielsweise bereitete ihr damals Unbehagen wegen des Anstosses, den es in der Öffentlichkeit erregte:

„Es war mir schon peinlich, Kopftuch zu tragen... und jeder guckt mich an.“

Erst als sie nach Ausbildung und zeitweiliger Berufstätigkeit plötzlich arbeitslos wurde, entstand für die damals 20jährige die Notwendigkeit für eine völlige Neuorientierung, was in eine intensive Beschäftigung mit religiösen Themen mündete. Durch Eigenstudium religiöser Bücher versuchte sie, Antworten zu finden auf die Frage „Wo sind meine Wurzeln, wo gehöre ich hin?“ Die Eltern waren dabei keine Hilfe, weil sie sich damals – wie sie selbst sagt – in jenem „bestimmten Alter“ befand, in welchem alles „nur Mist ist, was die da reden“. In der Besinnung auf die religiösen Schriften fand sie in dieser Krise Halt an ihrem Glauben und die Selbstvergewisserung, die sie suchte. Seitdem trägt sie überzeugt und konsequent ihr Kopftuch, das sie zuvor nur sporadisch – vor allem im Familienkreis oder bei Besuchen – aufsetzte.

Frau Gülers heutiger Umgang mit der deutschen Mehrheitsgesellschaft ist von Selbstbewußtsein und klarem Wissen um ihre Rechte und Pflichten, aber auch um ihre Diskriminierung als Ausländerin geprägt. So gründete sie mit anderen Muslimen zusammen einen schulpolitisch aktiven Verein, um für eine Verbesserung der Schulsituation ihrer Kinder zu kämpfen. Seither befindet sie sich in stetem Austausch mit Schulen, Behörden und Lehrern. Ansonsten aber bewegt sich Frau Güler so weit wie eben möglich in einem türkisch geprägten Umfeld. Sie nutzt vorrangig türkischsprachige Medien, kauft am liebsten in türkischen Läden ein und trifft sich privat ausschließlich mit türkischsprachigen Freundinnen und Verwandten.

Obwohl sie selbst von ihren deutschen Mitmenschen einfordert, daß diese sich aktiver um ein „Miteinander“ kümmern sollten, daß man sich kennenlernen und „miteinander irgendwas machen, sich häufiger treffen“ müsse, scheint ihr eigenes Bestreben eher in die Richtung einer Abschottung gegen die Einflüsse der Mehrheitsgesellschaft zu gehen.

Wie komplex ihre Situation allerdings wirklich ist – bei aller Betonung ihrer türkisch-muslimischen Identität –, wird in der Darstellung ihrer Bindung an die Türkei deutlich.

„Ich fühle mich mit der Türkei emotional noch sehr verbunden, was ich mit Deutschland weniger tue. Aber wahrscheinlich deswegen, weil ich denke, vielleicht ist es möglich, daß ich von der Türkei eher akzeptiert bin, daß die eher denken, ja sie gehört zu uns, als daß Deutschland das von mir denkt. Ich hab' mich niemals von der Türkei distanziert.“

In dieser Passage klingt eine Relativierung an, als wenn Frau Güler bereits Erfahrungen hat machen müssen, daß sie nicht vorbehaltlos darauf vertrauen kann, von den Menschen in der Türkei zu „uns“ gezählt zu werden. In dieser Hinsicht steht sie „dazwischen“. Obwohl ihre emotionale Verbundenheit zur Bundesrepublik deutlich geringer ist, geht sie davon aus, auch in Zukunft in Hannover zu wohnen und zu leben. „Ich werde wahrscheinlich in Hannover bleiben, trotzdem.“

Das „trotzdem“-Leben in der Bundesrepublik erscheint ihr nach Abwägung aller Vor- und Nachteile als das geringere Übel. Zu den Nachteilen zählt sie vor allem die Verstärkung der Ausländerfeindlichkeit in den letzten Jahren. Ihre Beziehung zur Mehrheitsgesellschaft ist heute überschattet von Angst,

„daß mir von draußen irgendwas, von außen jemand dann irgendeinen Schaden zufügt, diese Angst, diese potentielle Gefahr, die zur Zeit jetzt herrscht [...]“

Neben dieser allgegenwärtigen „potentiellen Gefahr“ unmittelbarer Gewaltandrohung erlebt Frau Güler alltägliche Diskriminierungen vielfältiger Art. Sie beschreibt typische Szenen, wie sie auf der Straße beschimpft, im Supermarkt aus der Warteschlange gedrängt und bei Bankgeschäften herablassend behandelt wird. Rückblickend auf mehr als 25 Jahre Lebenserfahrung in der Bundesrepublik konstatiert Frau Güler eine fortschreitende Vertiefung der Kluft zwischen deutscher Bevölkerung und den Zugewanderten.

„Ich lebe ja schon sehr, sehr lange hier. Man müßte eigentlich meinen, daß ich mich hier gut zurechtgefunden habe, das habe ich wahrscheinlich auch... Und das ich mich ganz wohl fühle. Aber das stimmt nicht.... Weil, man muß sich ja mit der Zeit, denk ich, mal ein bißchen mehr kennengelernt haben, das Fremde muß bißchen abgelegt worden sein, von beiden Seiten her. Aber leider ist das nicht der Fall. Man lebt hier, aber das Miteinander fehlt immer noch. Und man trennt sich, denke ich, noch mehr als vorher.“

Heute überlegt sie manchmal schon, ob sie nicht doch in der Türkei wieder zurechtkommen könnte. Doch gibt sich Frau Güler keinen Illusionen über die wirtschaftliche Situation in der Türkei hin, auch wenn das Leben dort ihr besser gefällt. Praktisch beabsichtigt Frau Güler, sich in Deutschland einbürgern zu lassen.

Frau Gülers Position bleibt letztlich offen. Sie weiß, daß ihr Geburtsland ihr – bei aller emotionaler Besetzung – fremd geworden ist, daß eine Rückkehr sie zu einem radikalen Neuanfang mit ungewissem Ausgang zwingen würde. Aber auch das Leben in der Bundesrepublik ist beschwerlich, von Angst und Unsicherheit überschattet. Doch geht sie mit dieser Situation kämpferisch um, sie pocht auf ihre Rechte und trotzt der Verständnislosigkeit der Mehrheitsbevölkerung in aller Öffentlichkeit. Allerdings wirkt Frau Gülers Plädoyer für Toleranz, mehr Begegnung und Verständigung etwas blutarm angesichts ihrer eigenen, auf Abschottung angelegten Lebenspraxis.

Insgesamt ist Frau Gülers Biographie ein Fall von geglückter struktureller Integration – man denke an den hohen Bildungsabschluß, den qualifizierten Arbeitsplatz im öffentlichen Dienst, das Engagement im schulpolitischen Verein und die bevorstehende Einbürgerung –, doch geht dies einher mit einer voranschreitenden persönlichen Entfremdung, die sich auch in der Wahl eines fast ausschließlich türkischsprachigen persönlichen Umfelds niederschlägt. Gleichzeitig zeigt Frau Güler ein wirklich vorbildliches staatsbürgerliches Engagement in Form der Deutschkurse und eben auch der ehrenamtlichen Tätigkeit im Schulverein. Dieses Engagement straft eine Verkürzung ihrer Haltung auf einen bloßen Rückzug aus der Mehrheitsgesellschaft eindeutig Lügen.

Wendet man nun den Blick wieder zurück auf die Ebene der institutionalisierten Zusammenschlüsse, der communities eben, ohne dabei den soben hergestellten Anschluß an die Ebene des Alltags- und Individuallebens zu verlieren, wird vielleicht etwas deutlicher, warum die bislang vorherrschenden Fragen so unergiebig geblieben sind. Will man etwa die Rolle islamischer Moscheevereine im Kontext der gewollt oder ungewollt multikulturell gewordenen deutschen Gesellschaft beurteilen, so scheint es mir wenig erfolgversprechend, weiterhin ausschließlich zu fragen, ob sie der „Integration“ förderlich seien oder möglicherweise sogar eine Bedrohung für die pluralistische Demokratie darstellen. Denn auf diese Fragen gibt es keine einfachen oder gar eindeutigen Antworten. Der Moscheeverein beispielsweise, in welchen Frau Güler ihre kleinen Kinder jedes Wochenende zum Koranunterricht bringt, gehört einem Dachverband an, der seine Nähe zur rassistischen Ideologie der türkisch-islamischen Synthese nicht zu verbergen sucht. Und doch ist dieser Moscheeverein der Ort, an welchem sich Frau Güler engagiert, um türkischstämmige Frauen in deutscher Sprache zu unterrichten. Nicht ohne Stolz vermerkte sie, daß seit einiger Zeit sogar ihre eigene Mutter ihren Kursus besucht, um nach 25 Jahren Arbeitsleben in einer deutschen Fabrik endlich ein bißchen Deutsch zu lernen. Dies ist ein Stück selbstorganisierte Integration und zugleich ein Stück Abschottung, wobei die Begriffe in dieser Vermengung beginnen, ihren Sinn zu verlieren.

Ich würde mich freuen, wenn unser Projekt dazu beigetrüge, daß in Zukunft andere, realitätsnähere Fragen die Forschung über die türkischen Einwanderung nach Deutschland anleiteten. Vor allem müßten es Fragen sein, die auch Antworten jenseits von Ja oder Nein, schwarz oder weiß zuließen.

Dieser Text wurde veröffentlicht in:
iza. Zeitschrift für Migration und Soziale Arbeit Frankfurt a.M. 1998 (Bd. 3-4) S.44-47

Anmerkungen:

1
Das Projekt wurde vom niedersächsischen Ministerium für Wissenschaft und Kultur finanziell gefördert. Hierfür möchte ich an dieser Stelle noch einmal danken.
2
Elwert, Georg „Probleme der Ausländerintegration. Gesellschaftliche Integration durch Binnenintegration?“ in: Kölner Zeitschrift für Soziologie und Sozialpsychologie Köln 1982 (Jg.34 Heft 4) S.717-731
3
Heitmeyer, Wilhelm; Schröder, Helmut; Müller, Joachim Verlockender Fundamentalismus. Türkische Jugendliche in Deutschland Frankfurt/M. 1997 (edition suhrkamp N.F. Bd.767)
4
Daß die Begriffe „Parallelgesellschaft“ und „Ghetto“ letztlich jedoch beliebig austauschbar sind, wenn es darum geht, Forderungen nach Zwangsassimilierung und Zuzugssperren zu untermauern, zeigen die aktuellen Entgleisungen des Berliner Innensenators Schönbohm. Siehe: Weiland, Severin „Innensenator Schönbohm entdeckt in Berlin Ausländerghettos“ in: die tageszeitung Berlin 1998 (Jg.20 Ausgabe vom 3.6.) S.1 und S.6
5
Zu den türkischen Sportvereinen in Hannover siehe Hellriegel, Lars „Die historische Entwicklung türkischer Sportvereine in Hannover. Ein Beispiel komplexer Differenzierungen“ in: Sozial- und Zeitgeschichte des Sports Aachen 1999 (Jg.19 Heft 3) S.7-23. Der Artikel beruht auf der Magisterarbeit „Die türkischen Sportvereine in Hannover“, die im Projekt entstanden ist.
6
Das einzige explizit auf türkischstämmige RentnerInnen ausgerichtete Projekt in Hannover wurde im letzten Jahr von der Arbeiterwohlfahrt aus schwer nachvollziehbaren Gründen eingestellt.
7
Die seinerzeit in dem sehr einflußreichen Buch Graue Wölfe, Koranschulen, Idealistenvereine. Türkische Faschisten in der Bundesrepublik von Barbara Hoffmann, Michael Opperskalski und Erden Solmaz (Köln 1981) propagierte These, daß alle muslimischen Organisationen in der BRD letztlich faschistisch seien, wirkt leider bis heute fort. In einer ganz aktuellen Veröffentlichung heißt es etwa: „Alle Moscheen und Korankurse in der BRD sind unter der festen Kontrolle von rechtsextremistischen Gruppen.“ (Aslan, Fikret; Bozay, Kemal u.a. (Hg.) Graue Wölfe heulen wieder. Türkische Faschisten und ihre Vernetzung in der BRD Münster 1997 S.233)