Nationalismus in Kurdistan (1993)
Die Diskussion des vorigen Abschnitts hat zumindest eines erbracht: „Die Kurden“ und „das kurdische Volk“ sind keine voraussetzungslos gegebenen Begriffe, die man ohne weiteres auf jeden Abschnitt der Geschichte anwenden könnte. Oder anders ausgedrückt: Die damit gemeinte Menschengruppe ist von ganz anderer Art als etwa die Menschenmenge „aller Rothaarigen mit einer Körperlänge über 150 cm“, denn die Frage, wer alles zu „den Kurden“ gehört, ist eben nicht „mit objektiven natur- bzw. kulturwissenschaftlichen Methoden“ verbindlich zu beantworten.
Das ganze Dilemma läßt sich – zumindest für die Zwecke meiner Untersuchung – nur auflösen, indem man aus den eingefahrenen Gleisen herausspringt, die „kurdische Nation“ als heimlichen Bezugsrahmen der Untersuchung aufgibt und sich stattdessen der „kurdischen Gesellschaft“ zuwendet. Dieser Schritt bedarf einiger Erläuterungen. Zunächst einmal ist zu betonen, daß hier nicht etwa der Begriff der „kurdischen Nation“ insgesamt verworfen werden soll, denn die kurdische Nation hat unbestreitbar gesellschaftliche Realität; allerdings ist sie wie alle anderen Nationen des Mittleren und Vorderen Orients ein Produkt des 20. Jahrhunderts. Ich halte es sogar für notwendig, diese Feststellung dahingehend zu präzisieren, daß der Anfang dieses Jahrhunderts begonnene Bildungsprozeß der kurdischen Nation sich heute in seiner Abschlußphase befindet, daß also die kurdische Nation gegenwärtig noch dabei ist, sich endgültig zu konstituieren.[1] Es wäre unnütz, die Nichtexistenz einer kurdischen Nation [– S.40 –] etwa im 7. oder 18. Jahrhundert dadurch kaschieren zu wollen, daß man für die Zeiten vor dem 20. Jahrhundert statt von einer „kurdischen Nation“ von einem „kurdischen Volk“ spräche, solange der Begriff „Volk“ nach demselben Kriterienkatalog modelliert wird wie die „Nation“.[2] In diesem Sinne sprach ich von einem ‚heimlichen‘ Bezugsrahmen, den man besser aufgeben sollte. Es führt nur in die Irre, wollte man etwa „die Kurden“ des 16. Jahrhunderts im Lichte eines „kurdischen“ Nationenbegriffes interpretieren – dasselbe gilt allerdings ebenso für „die Türken“, „die Perser“ etc.
Nun enthält der von mir vorgeschlagene Begriff der „kurdischen Gesellschaft“ ebenfalls das Prädikat „kurdisch“, was die Frage aufwirft, wie sich das mit den soeben vorgebrachten Kritikpunkten verträgt, zumal der Begriff „Gesellschaft“ dem des „Volkes“ bedenklich nahe zu stehen scheint.[3] Von daher ist es wichtig festzustellen, daß in dieser Arbeit unter „kurdischer Gesellschaft“ nicht eine Gesellschaft kurdisch-nationaler Wesensbestimmung, sondern ein komplexer Zusammenhang sehr heterogener sozialer Gruppen verstanden werden soll, von denen eine unter den Bedingungen eines durch gewaltige Bergketten beherrschten natürlichen Lebensraumes die Hegemonie über die anderen hat gewinnen können. Mit dem Prädikat „kurdisch“ möchte ich also weder ausdrücken, daß diese „Gesellschaft“[4] durchgängig „kurdisch“ im nationalen [– S.41 –] (oder völkischen) Sinne sei, noch daß ein „kurdisch“ zu nennendes Bevölkerungselement die zahlenmäßige Mehrheit darstellte. Vielmehr geht es um eine bestimmte, nämlich halbnomadische Produktions- und Lebensweise, die sich in der Bergwelt gesellschaftlich als prägend durchgesetzt hat, mag sie von kurdischsprachigen Muslimen, turksprachigen Anhängern des Schamanismus oder aramäischsprachigen Ostchristen praktiziert werden. Wenn oben von einer die Hegemonie ausübenden sozialen Gruppe die Rede war, dann also nicht im Sinne einer Gruppe von „Kurden“. Ich betone dies ausdrücklich, um dem falschen Eindruck vorzubeugen, es solle hier – sozusagen durch die Hintertür – doch noch ein möglicherweise materialistisch gewendetes Merkmal für das „Kurde-Sein“ eingeführt werden.
Die in sprachlicher oder nationaler Hinsicht völlig indifferente Assoziation von (halb-)nomadischer Lebensweise mit „kurdisch“ geht auf die frühmittelalterlichen arabischen Geographen und Geschichtsschreiber zurück, die den Begriff „Kurden“ tatsächlich überhaupt erst prägten:
„Die mittelalterlichen arabischen Geographen benutzten den Ausdruck ‚Kurde‘ (in der arabischen Pluralform ‚Akrad‘), um jene nomadischen (oder halbnomadischen) Stämme zu bezeichnen, die weder Araber noch Türken waren. Dies schloß Stämme mit ein, welche heutzutage selbst der allerextremste Vertreter unter den kurdischen Nationalisten nicht zu seiner Nation zählen würde. Vereinzelt wurden selbst arabischsprachige Nomaden als ‚Akrad‘ bezeichnet [...]“[5] (meine Übers.; engl. Original)
„Akrad“ stellte also eine Art Sammelbegriff für jene Nomaden dar, die weder mit dem Dromedar („Araber“), noch mit dem baktrischen Kamel („Türken“) wanderten[6] und zudem soweit in der Peripherie des arabischen Weltreiches gelegen waren, daß eine spezifischere Begriffsbildung nicht lohnend erschien.[7] Die hochaufragenden, schnee- und regenreichen Bergketten des Taurus und Zagros – Herzstück jener Region, die die kurdischen Nationalisten heute für ihr Projekt eines unabhängigen Staates Kurdistan reklamieren – bildeten daher aus der Perspektive der wüstengewohnten arabischen Herren nur einen Teil jener entlegenen Regionen, wo sie „Akrad“ verorteten. Auch kamen sie nicht auf den Gedanken, diese besondere Region „Kurdistan“ zu nennen; der Name [– S.42 –] taucht überhaupt erst gegen Ende der Seldschukenherrschaft auf.[8]
Mein Konzept der „kurdischen Gesellschaft“ steht diesem recht unspezifischen Gebrauch des Prädikats „kurdisch“ in gewisser Weise nahe, denn jene besondere Symbiose von Bergnomadismus und Halbnomadismus – oder besser: Yaylabauerntum[9] –, die meiner Meinung nach mit ihr wichtigstes Strukturmerkmal darstellt, wird in den Tälern und Schluchten an den Flanken von Taurus und Zagros zumindest seit dem 1. Jahrtausend v.u.Z. von den verschiedensten Bewohnern praktiziert.[10] Für diese Kontinuität gibt es gute Gründe. Die Menschen in den Bergen können aus ökologischen wie ökonomischen Gründen auf Viehwirtschaft nicht verzichten, bedeutet sie doch eine absolut notwendige Ergänzung des nur dürftigste Erträge bietenden Ackerbaus.[11] Damit ist [– S.43 –] zumindest in gewissem Maße ein Zwang zum Nomadismus gegeben, denn unter den Bedingungen enormer Temperatur- und Feuchtigkeitsunterschiede zwischen Winter- und Sommerklima ist Viehhaltung in nennenswertem Umfang nur bei saisonalem Weidewechsel möglich.[12] Wanderweidenwirtschaft ist unter diesen naturräumlichen Gegebenheiten selbst im 20. Jahrhundert keine Frage von ‚Rückständigkeit‘, sondern eine objektive Notwendigkeit.[13] Zugleich zwingt die extreme Unwegsamkeit des natürlichen Umfeldes die Bergbewohner aber auch dazu, nach Autarkie zu streben. Noch auf den kargsten Flächen muß versucht werden, die notwendigen Nahrungs- und Verbrauchsmittel selbst anzubauen.[14] Die folgende Feststellung Braudels trifft sicher nicht nur auf die Bergwelt des Mittelmeerraumes zu
„Dennoch, ob winziger Weiler oder wichtiges Dorf, die Bergbevölkerung ist im allgemeinen verloren in einem unwegsamen, übergroßen Raum, darin ein wenig jenen ersten Siedlungszentren in der Neuen Welt gleich, die ebenfalls versanken in einem Übermaß an Raum, welcher zum großen Teil unfruchtbar oder lebensfeindlich war. [...] Die Bergwelt ist gezwungen, sich im wesentlichen selbst zu ernähren, alles selbst zu erzeugen – koste es, was es wolle –, Weinreben, Getreide und Ölbäume anzupflanzen, selbst wenn Boden oder Klima sich hierfür nur schlecht eignen.“[15] (franz. Original)
[– S.44 –] Eine ausschließlich aus Wanderviehzüchtern zusammengesetzte Gesellschaft könnte in den Bergen nicht überleben, ortsfester Ackerbau muß die mobile Wirtschaftsform ergänzen – allerdings nicht notwendig auf dem Niveau der einzelnen Wirtschaftseinheit. Das System würde auch funktionieren, wenn Viehzüchter und Bauern ihre separat erwirtschafteten Produkte regelmäßig untereinander austauschten (vor allem Fleisch und Käse gegen Getreide). Realistischer – zumindest in historischer Perspektive – ist es jedoch anzunehmen, daß eine der beiden Gruppen aufgrund überlegener Stärke sich die Produkte der anderen aneignet, und in der Tat war es dem nomadische Gesellschaftsteil vor dem Eindringen effektiver staatlicher Kontrolle in die Berge regelmäßig möglich, den Seßhaften die ‚Tausch‘-Bedingungen zu diktieren.[16]
Es bedarf nun noch einer weiteren, ebenfalls sehr wichtigen Komponente, um meinen Arbeitsbegriff „kurdische Gesellschaft“ vorläufig abzurunden, nämlich das Vorherrschen der tribalen Organisationsform bei der gesellschaftlich hegemonialen sozialen Schicht.[17] Diese Schicht war bis weit in das 20. Jahrhundert hinein geprägt durch ein regelrecht ständisches Bewußtsein ihrer Überlegenheit über die nicht-tribalen Gesellschaftsteile.[18] Vielleicht erwuchs aus der Einigkeit [– S.45 –] darüber, wer im allgemeinen berechtigt war zu herrschen und wer nicht – nämlich die abhängige Bauernschaft, die reaya –, sogar ein diffuses Zusammengehörigkeitsgefühl, weitergehende Verbindlichkeit untereinander war daraus jedoch nicht abzuleiten. Etliche Stämme konnte nämlich ihre tribale Organisation auch nicht davor retten, von anderen Standesgenossen unterworfen und ihrer Unabhängigkeit beraubt zu werden. Wenn es der Sicherung ihrer eigenen lokalen Vormachtstellung diente, scheute keine Stammesgruppe den Angriff auf die benachbarten Rivalen, selbst wenn dadurch Bande der Blutsverwandtschaft verletzt wurden. Umgekehrt war man jederzeit bereit, ad hoc-Bündnisse mit wem auch immer einzugehen, solange von dort nur wirksame Unterstützung in der momentanen Konfliktsituation erwartet werden konnte.[19]
„Selbst auf der Ebene des Stammes kann sich die Einigkeit gegenüber der Außenwelt allein im Reich der Ideologie abspielen. [...] Im Falle eines Konflikts zwischen zwei Stämmen kann es vorkommen, daß eine Untergruppe des einen Stammes gemeinsame Sache mit der anderen Seite macht – entweder auf Grund einer internen (Blut)Fehde, die als sehr schwerwiegend betrachtet wird, oder (was noch häufiger vorkommt) weil der Chef der Untergruppe persönliche Streitigkeiten mit dem obersten Stammesführer auszutragen hat. [...] es gab ständige Kämpfe um die Führerschaft des Stammes. Jeder der Rivalen versuchte, das sozio-politische Umfeld so zu beeinflußen, daß er den Sieg über die anderen davontragen konnte. Für Menschen dieser Art war die maßgebliche Einteilung nicht ‚mein Stamm‘ vs. ‚die anderen Stämme‘, sondern ‚die Machtquellen, die meine Rivalen anzapfen‘ vs. ‚die Machtquellen, die ich anzapfen könnte‘. [...] Die Einflußnahme auf die Zentralgewalt, um in einem lokalen Stammeskonflikt zu obsiegen, ist in der kurdischen Geschichte ein immer wiederkehrendes Thema.“[20] (meine Übers.; engl. Original)
Leider ist das Konzept „Stamm“ kaum weniger schwammig als „Volk“ oder „Nation“, so daß seine unspezifizierte Verwendung nur mehr Unklarheiten schaffen als beseitigen würde. Über eines allerdings herrscht in der neueren anthropologischen und ethnologischen Forschung Einigkeit, nämlich daß „Stammeszugehörigkeiten“ und damit „Stämme“ von Menschen „gemacht werden“.[21] Das heißt, daß man sich von der Vorstellung verabschieden muß, Stämme seien allein auf Blutsbanden aufgebaut und deshalb – angesichts so und nicht anders gegebener Verwandtschaftsverhältnisse – im wesentlichen statische Gebilde. Dies trifft allenfalls noch auf die „Sippe“ zu, die als – weit gefaßte – Gemeinschaft der leiblich Verwandten als ein unmittelbares und ursprüngliches [– S.46 –] Kollektiv gelten mag, das keiner Vermittlung über einen politischen Führer bedarf, um als handlungsfähige Einheit zu existieren.[22] Die Zugehörigkeit zu einem Stamm hingegen sollte man – zumindest für den Kontext der „kurdischen Gesellschaft“ – als Funktion einer durchaus aufkündbaren, politischen Gefolgschaft zu einer Führungspersönlichkeit sehen.[23]
Rondot berichtet z.B. vom Aufstieg des Mela Mistefa, Sohn des Etman Ağa, letzterer Chef einer nach ihm benannten Stammesgruppe, der „Etmankan“. Mela Mistefa geriet in Streit mit seinem Vater und mußte zu einem benachbarten Führer, Mehm-dki Ağa, flüchten, dessen Vertrauen er erwarb. Obgleich ein Fremder unter den „Mehm-dkan“, konnte Mela Mistefa aufgrund außergewöhnlicher persönlicher Qualitäten die Nachfolge Mehm-dki Ağas übernehmen. Mit Hilfe der neuen Gefolgschaft besiegte er seinen Vater und führte dadurch letztlich die Etmankan und Mehm-dkan zu einem neuen Stamm zusammen, der zu Rondots Zeiten, also gut hundert Jahre nach diesen Vorfällen, als „Omêran“ bekannt war.[24]
Umgekehrt scheiden oft ganze Untergruppen aus einem Stamm aus, um sich einem anderen, erfolgreicheren anzuschließen oder eine eigenständige Einheit zu bilden.[25] Das bedeutet, daß Stämme je nach Fortune des jeweiligen Führers wachsen, schrumpfen oder sich in anderen auflösen können. Im Falle eines Zusammenschlusses (Neugründung oder Anschluß) verschmelzen die Ahnenreihen der zusammengehenden Gruppen alsbald, so daß sie dann den Eindruck erwecken, ‚immer schon‘ zusammengehört zu haben.[26] Von daher ist „Stamm“ ein höchst flexibles und geradezu flüssiges Sozialgebilde, das auf einem Geflecht [– S.47 –] dynamischer, ständig wechselnder Beziehungen beruht.[27] Langfristig passen sich die Genealogien den politischen Erfordernissen an – nicht umgekehrt.[28] Schon Max Weber ging davon aus, daß gerade in früheren Zeiten kollektives Handeln, aus welchen Gründe es auch immer zustandegekommen sei, selbst unter bis dahin unverbundenen Menschen regelmäßig Abstammungsverwandtschaftsüberzeugung hervorbringe.
„Unter Bedingungen geringer Verbreitung rational versachlichten Gesellschafthandelns attrahiert fast jede, auch eine rein rational geschaffene, Vergesellschaftung ein übergreifendes Gemeinschaftsbewußtsein in Form einer persönlichen Verbrüderung auf der Basis ‚ethnischen‘ Gemeinsamkeitsglaubens.“[29]
Man vergleiche hierzu Lindners Bemerkung: „Blutsverwandtschaft, als eine Ausdrucksweise verstanden, betont und verstärkt die Einigkeit des Stammes, indem fiktive Blutsbande den gemeinsamen Interessen beigefügt werden.“[30]
Es ist wichtig, sich den politischen Charakter des hier verwendeten Stammesbegriffes vor Augen zu führen. „Stämme“, wie ich sie in Anlehnung an Gellner[31] auffasse, sind keine harmonisch zusammengewachsenen Familien- oder Generationenverbände, sondern klar auf Herrschaft über natürliche und menschliche Ressourcen orientierte Koalitionen von waffentragenden Freien.[32] Dem [– S.48 –] entspricht auch die Tatsache, daß die Nachfolge eines ausscheidenden Stammeschefs keineswegs notwendig auf den ältesten männlichen Verwandten übergeht. Es kann auch ein jüngerer Bruder oder ein entfernter Onkel, ja selbst ein gänzlich Fremder wie Mela Mistefa Nachfolger werden, denn Befähigung und Einfluß zählen weit mehr als Nähe der leiblichen Verwandtschaft.[33] Weiterhin ist zu betonen, daß die Tendenz zur Organisation in Stämmen zwar bei Nomaden außerordentlich groß ist, die nomadische Lebensweise aber im zur Debatte stehenden Zusammenhang keine notwendige Voraussetzung hierfür ist.[34] Seßhafte Lebensweise und tribaler Status schließen sich gegenseitig nicht aus, auch Bauern und selbst Städter können tribal organisiert sein.[35] Zudem ist die Stammesverfassung weder eine Erfindung noch ein Privileg der Muslime, für das 19. Jahrhundert sind gut organisierte christliche Stämme belegt[36], und es spricht nichts dagegen anzunehmen, daß sie auch lange zuvor schon existierten.
Weder tribale Organisation noch Wanderweidenwirtschaft sind also in dem Sinne spezifisch „kurdisch“, als daß sie Kennzeichen einer einzigen homogenen Bevölkerungsgruppe („Volk“, „Ethnie“ etc.) seien, sondern es handelt sich um Lebens- und Wirtschaftsweisen, die sich in einem bestimmten naturräumlichen und historischen Umfeld als so erfolgreich erwiesen haben, daß Menschen der verschiedensten Religionen, Sprachen und Herkunft sie annahmen. Auch wenn das, was ich „kurdische Gesellschaft“ nennen möchte, im Ganzen von diesen [– S.49 –] Lebensweisen nachdrücklichst geprägt wurde, blieb es doch die längste Zeit der Geschichte ein soziales Universum nach Art eines ‚Flickenteppichs‘, das erst durch die gewalttätigen und überaus blutigen Umwälzungen seit dem ausgehenden 19. Jahrhundert so weit vereinheitlicht wurde, daß das Prädikat „kurdisch“ einen nationalen Gehalt erhalten konnte.
Was aber macht dann den Zusammenhang einer so heterogenen Gesellschaft vor dem 20. Jahrhundert aus? Mir scheint, daß der extreme Lebensraum des Hochgebirges den eigentlichen ‚Kitt‘ des Begriffs „kurdische Gesellschaft“ ausmacht, d.h. ohne die Verbindung zu einem spezifischen Naturraum macht er keinen Sinn.[37] Man muß sich die enorme Unwegsamkeit und Kargheit dieser Gebirgslandschaft klarmachen, in welcher sich die menschlichen Ansiedlungen verlieren, in der massiver Schneefall in jedem Winter alle Außenkontakte abschneidet und in die hinein die Einflüsse der auf große städtische Zentren gegründeten, umliegenden Reiche nur mühsam vordringen.[38] Unter diesen Bedingungen nur ansatzweiser Präsenz einer regulierenden Zentralmacht bietet das tribale halbnomadische Lebensmodell die besten Chancen, sich den Zugriff auf alle lebensnotwendigen Ressourcen zu sichern. Die Lebensweise der nicht-tribalen und ortsgebundenen Feldbau treibenden Bewohner des nämlichen Naturraumes verstehe ich von daher nicht als einen Gegenentwurf zum tribalen Modell, sondern als Ausdruck ihrer Niederlage im permanenten Konkurrenzkampf[39] , denn die Verlierer werden regelmäßig ihres Viehs und ihrer Weiderechte beraubt und – sofern die Unterwerfung längerfristig wirksam bleibt – auf den Status politischer Unmündigkeit reduziert. Aber die reaya von heute können durchaus die aşiret von morgen sein und umgekehrt, denn der tribale Status hängt nicht an der ‚Gnade‘ einer ‚höheren‘ Geburt, sondern ist eine Frage faktischer Macht, und die Machtverhältnisse – zumindest in der sich selbst überlassenen Bergwelt – bleiben ständig im Fluß.
Die bislang genannten Faktoren – geringe staatliche Penetration infolge [– S.50 –] extremer Unwegsamkeit, Streusiedlung bei insgesamt sehr geringer Bevölkerungsdichte verbunden mit dem Zwang zur Wanderweidenwirtschaft aufgrund der nur kärglichen Erträge, die die Umwelt selbst bei hohem Arbeitseinsatz hergibt – haben allerdings den Mangel, daß sie ausschließlich auf der Form des Erdreliefs beruhen, sich meine theoretisch konstruierte „kurdische Gesellschaft“ somit in fast jeder Hochgebirgslandschaft befinden könnte, und an hohen Gebirgszügen ist Vorderasien wahrhaftig nicht arm. Neben die ökologisch bedingten Aspekte müssen zur Eingrenzung des Gegenstands also noch historische treten. Die „kurdische Gesellschaft“ suche ich im wesentlichen dort, wo sich die spezifische Form des „kleinen“ Bergnomadismus, die als Wanderungstiere vor allem den Esel und den Ochsen benötigt[40] , langfristig als dominantes sozioökonomisches Muster gegen den Langstreckennomadismus, der auf dem Kamel oder Dromedar beruht und von außen, aus den Wüsten und Steppen an das Gebirge herangetragen wurde, behauptet hat.
Es versteht sich von selbst, daß ein auf diese Art begrenztes Sozialgebilde eine mit den Jahrhunderten sehr wechselhafte Ausdehnung hat und zu den ‚Rändern‘ hin ins völlig Unbestimmbare verläuft. Ich glaube nicht, daß es Sinn hätte, eine Karte hiervon zeichnen zu wollen. Etwas anders steht es mit dem geographischen Begriff „Kurdistan“, der sich – ohne jemals irgendwo festgelegt worden zu sein[41] – für die Bergketten des östlichen Taurus und nördlichen Zagros eingebürgert hat.[42] Soweit ich ihn in dieser Arbeit verwende, ist er im [– S.51 –] strikt geographischen Sinne zu verstehen: Er bezeichnet einen Abschnitt der Erdoberfläche, den man aus Bequemlichkeitsgründen nicht mit seinen Koordinaten von Breiten- und Längengraden angibt, sondern mit einem Namen behaftet hat. Als solcher ist er austauschbar und begründet keinerlei Rückschlüsse auf die dort lebende Bevölkerung. Genauso sagt die Tatsache, daß eine bestimmte Weltregion seit dem Mittelalter in der abendländischen Terminologie „Türkei“ geheißen wird, nichts darüber, daß dort schon immer „Türken“ gelebt hätten – so sehr die Staatsdoktrin der heutigen Türkischen Republik dies auch möchte.[43]
Schließen möchte ich mit dem Hinweis, daß ich wenig davon halte, Angaben über die Gesamtzahl aller Kurden zu machen. Die in der vorhandenen Literatur gebotenen Zahlen beruhen allesamt auf Annahmen, Schätzungen oder Hochrechnungen noch älterer Schätzungen(44), wobei das Ergebnis je nach politischem Standpunkt mal höher mal niedriger ausfällt: zwischen Null und 30 Millionen wurde so ziemlich jede Zahl schon einmal genannt.[45] Da sämtliche AutorInnen darin übereinstimmen, daß es in keinem der infrage kommenden Staaten zuverlässig nach „Kurden“ und „Nicht-Kurden“ aufgeschlüsselte Bevölkerungsstatistiken gibt, und angesichts der Schwierigkeiten, die die Wissenschaft selbst mit dieser Aufschlüsselung hat, muß jede Zahlenangabe zum gegenwärtigen Zeitpunkt notwendig Spekulation bleiben.[46]
[– S.52 –] Man kann allenfalls feststellen, daß nach allen bekannten Berichten die Zahl der Menschen, für die die Kategorie „Kurde“ eine wesentliche Bedeutung in ihrem Leben hat, sei es, weil sie sich selbst als „Kurden“ wahrnehmen und als solche verhalten, sei es, weil sie sich einer spezifischen, meist repressiven Behandlung durch den Staat ausgesetzt sehen, da sie von dieser Seite – offen oder insgeheim – als „Kurden“ kategorisiert werden, nicht nach Tausenden, sondern nach Millionen gezählt werden muß. Für jede weitere Präzisierung wäre zunächst eine völlige Umkehrung der offiziellen Politik aller betreffenden Staaten vonnöten, denn gegenwärtig wäre ein Versuch, dieser Aufgabe vor Ort nachzugehen, mit akuter Gefahr für Leib und Leben aller Beteiligten – BefragerInnen und Befragter – verbunden. Nach dem blutigen Scheitern des mit dem Antritt der Regierung Demirel eingeleiteten, kurzen kurdisch-türkischen ‚Frühlings‘ und den unverhohlenen Drohungen des irakischen Baath-Regimes, der prekären Autonomie der „Nord-Zone“ so bald als möglich ein militärisches Ende zu setzen – steht aber eine ernsthafte Wende weiter in der Ferne denn je.
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