Nationalismus in Kurdistan (1993)

1. Einleitung

Die vorliegende Arbeit stellt eine überarbeitete Fassung meiner Dissertation dar, mit der ich im Juni 1992 an der Fakultät für Geistes- und Sozialwissenschaften der Universität Hannover promovierte. Der langwierige Forschungsprozeß, der hiermit einen (vorläufigen) Abschluß findet, nahm seinen Anfang vor über fünf Jahren, als ich die ersten Schritte unternahm für eine Magisterarbeit mit dem Thema „Entstehung und Einfluß des Nationalismus in der kurdischen Gesellschaft“. Der „kurdische Faktor“ im damals noch tobenden Krieg zwischen Irak und Iran sowie die allmählich einsetzende Diskussion über die „Arbeiterpartei Kurdistans (PKK)“ gaben zusätzlichen Anreiz, sich mit der kurdischen Gesellschaft und der Bedeutung des Nationalismus in ihr auseinanderzusetzen. Mein Anliegen dabei war es, den spezifischen Nutzen einer Kritik des Gebrauchs der Kategorien „Nation“ und „Nationalismus“ für die Untersuchung der kurdischen Gesellschaft zu prüfen.

Zunächst jedoch lag vor mir ein Berg an bereits veröffentlichter Information, an dessen Aufarbeitung ich mich in der stillen Hoffnung machte, dabei vergleichsweise rasch zu einem tragfähigen Gerüst an Daten und Fakten kommen zu können, auf das ich mich in meiner besonderen Herangehensweise würde stützen können. Tatsächlich jedoch erwies sich allein schon das Fixieren von verläßlichen Daten als ein erhebliches Problem, und ich mußte mir allmählich darüber klar werden, daß es so etwas wie einen „gesicherten Stand der Wissenschaft“ in der Forschung über die kurdische Gesellschaft nicht gibt.

Natürlich hat dies viel damit zu tun, daß eine systematische wissenschaftliche Beschäftigung mit Kurdistan und der kurdischen Gesellschaft weder in der BRD noch sonst in einem anderen Land stattfindet.[1] Die Ursachen hierfür liegen auf der Hand: Da es keine staatliche Einheit „Kurdistan“ gibt, die sich die Förderung und Pflege einer eigenen Wissenschaftssparte „Kurdologie“ hätte zum Staatsanliegen machen können, sondern das – wie auch immer unscharf umrissene – geographische Kurdistan aufgeteilt ist unter bis vor kurzem fünf Staaten, von denen nur einer, die ehemalige UdSSR, wenigstens eine Minimum an explizit der kurdischen Gesellschaft gewidmeter Forschung zuließ, die anderen [– S.8 –] Staaten aber – wohl aus Furcht vor einer weiteren Belebung des kurdischen Nationalismus – jegliche Art von Forschung auf diesem Gebiet massiv unterdrükten, waren und sind Vor-Ort-Forschung und andere Formen der Materialbeschaffung aus ‚erster Hand‘ außerordentlich schwierig. Zugleich fehlt in anderen Ländern aus dem nämlichen Grunde, daß es keinen Staat „Kurdistan“ gibt, der Anreiz, eine entsprechende landeskundliche Fachsparte zu begründen.

Statt sich also zu einer Wissenschaft von den Formen und der Entwicklung der kurdischen Gesellschaft insgesamt zu ergänzen, kümmern daher die einzelnen kurdologischen Forschungszweige, soweit überhaupt vorhanden, als Wurmfortsätze etablierter Disziplinen dahin. So taucht die kurdische Sprache höchstens als Randgebiet der Iranistik auf, und soziostrukturelle Daten, wie etwa zur Entwicklung der Landbesitzverhältnisse in Kurdistan, kann man nur mühsam aus Fußnoten, zudem verstreut über verschiedene Länderberichte, zusammenklauben, sofern diese überhaupt auf regionale Strukturunterschiede eingehen. Dies alles hat dazu geführt, daß ein gewisser Wildwuchs die nichtsdestoweniger reichhaltige Kurdistanliteratur kennzeichnet, abenteuerhafte Reiseberichte oder journalistisch aufbereitete Verschnitte früherer Veröffentlichungen beherrschen das Bild. Nur so ist es möglich, daß der vor sachlichen Fehlern nur so strotzende Sammelband von Chaliand (Hg.), Kurdistan und die Kurden Bd.1, hierzulande immer noch als eine Art ‚Standardwerk‘ behandelt wird – einfach weil es sonst nichts Vergleichbares gibt. Ein weiterer Indikator für den traurigen Zustand der Kurdistanliteratur ist die Tatsache, daß das Autorenkollektiv, das für die Aktualisierung des Stichworteintrages “Kurds, Kurdistan” in der neuen, englischsprachigen Auflage der Encyclopaedia of Islam zuständig war, es für angemessen hielt, den zum Zeitpunkt der Wiederveröffentlichung (1986) immerhin schon fast sechzig Jahre alten Beitrag Minorskys über die geschichtliche Entwicklung bis zum Ende des Ersten Weltkrieges aus der ersten Auflage in unveränderter Form zu übernehmen.[2]

Um zu illustrieren, welche Probleme dieser Umstand für das Projekt der vorliegenden Arbeit schuf, möchte ich ein Beispiel näher ausführen. In der Dissertation von Hannelore Küchler, die mir zufällig gleich zu Anfang meiner Beschäftigung mit der kurdischen Gesellschaft in die Hände fiel, las ich folgende Passage:

„Am 23. Mai 1919, also drei Monate nach der Eingabe der kurdischen Unabhängigkeitsforderungen in Paris, versammelte sich eine anscheinend große Zahl von Stammesführern in Nord-Kurdistan, in der Nähe von Malatia, um in einer großangelegten Aktion ihre Forderungen sofort [– S.9 –] durchzusetzen. Durch Vermittlung des General Bell, Chef des britischen Geheimdienstes in Aleppo, entschloß man sich, auf die von demselben in Aussicht gestellte Berücksichtigung der in Paris vorgetragenen Forderungen zu warten.“ [3]

Hieraus mußte ich den Schluß ziehen, daß zum einen kurz nach Ende des Ersten Weltkrieges schon ein hoher Grad an Organisation unter den tribalen Kräften der kurdischen Gesellschaft erreicht war, zum anderen, daß die von Küchler erwähnten Stammeschefs die bei den Pariser Friedensverhandlungen aufgestellten Forderungen nach Unabhängigkeit für einen Staat „Kurdistan“ nicht nur unterstützten, sondern am liebsten auf der Stelle realisiert gesehen hätten, und schließlich, daß britisches Eingreifen solch autonomes Handeln unterband. Zum Beleg verwies die Autorin in einer Fußnote auf ein Werk von Basile Nikitine; dort fand ich die folgende Passage:

„Zur Zeit des türkischen Zusammenbruchs versammelten sich die kurdischen Chefs im Mai 1919 bei Kahta nahe Malatya, um eine Aktion gegen die Kemalisten vorzubereiten. Dem Chef des britischen Geheimdienstes in Aleppo, Oberst Bell, gelang es, sie im Auftrag seiner Regierung davon abzubringen, er versprach allerdings im Namen der Alliierten, daß die nationalen Bestrebungen der Kurden geprüft werden sollten. Der Vertrag von Sèvres zeichnete sich bereits am Horizont ab ...“[4] (meine übersetzung, franz. Original)

Zwischen den beiden Zitaten bestehen offenkundige Diskrepanzen, vor allem wenn man bedenkt, daß Nikitines Darstellung die Vorlage für das erstere Zitat abgegeben haben soll. Statt „23.5.1919“ heißt es „im Mai 1919“ ganz allgemein, aus dem General Bell ist ein Oberst Bell geworden, der statt einer „Berücksichtigung“ nationaler Forderungen nur deren „Prüfung“ versprach, und schließlich scheint die Stoßrichtung der beim „Treffen bei Kahta“ erwogenen Aktion sich hier gegen die „Kemalisten“ zu richten, was jedoch unmöglich ist, da im Mai 1919 eine kemalistische Bewegung noch gar nicht existierte. Leider hat Nikitine die Quelle seiner Informationen nicht angegeben, ich bin jedoch im Verlauf der weiteren Recherchen schließlich von selbst darauf gestoßen. Es handelt sich um eine französischsprachige Broschüre aus dem Jahr 1930 von einem gewissen „Dr. Bletch Chirguh“ (ein Pseudonym für Sureya Bedir Khan).[5] Hier die entsprechende Stelle:

„Drei Delegierte der Kürdistan Teali Cemiyeti – die Emire Celadet und Kamuran Âli Bedir Khan sowie Cemil Paşazade Ekrem Bey –, welche eine Mission in Malatya zu erfüllen hatten, wurden von Militärkräften angegriffen, die Mustafa Kemal gegen sie geschickt hatte. Angesichts dieses Überfalls zogen sie sich in die Berge von Kahta zurück, um eine kurdische Streitmacht aufzustellen und die Banden, die Mustafa Kemal gegen sie ausgesandt hatte, zu verjagen. Sie hatten bereits rund 3 000 Mann versammelt, als der bewußte Oberst Bell [er war wenige Zeilen zuvor als «Chef de l'Intelligence department» in Aleppo erwähnt worden, G.B.] in Malatya eintraf und einen britischen Offizier, Major Noel, zu ihnen sandte. Dieser forderte sie im Namen der englischen Regierung auf, [– S.10 –] sich sofort zurückzuziehen. Sie waren gezwungen sich zu fügen, denn diesem Rat nicht zu folgen, hätte bedeutet, im Kampf gegen die Türken die Engländer im Rücken zu haben.“[6] (franz. Original)

Die Übereinstimmung an Personen, Ort und Handlung lassen kaum einen Zweifel, daß Nikitine sich auf Chirguh bzw. Bedir Khan stützt, allerdings fehlen in seiner Quelle nicht nur der Bezug auf die Pariser Friedensverhandlungen und die Datierung Mai 1919, sondern Nikitines wohlerwogene „Aktion gegen die Kemalisten“ stellt sich hier als eine spontane Notwehrhandlung dar. Auch weist Chirguh (Bedir Khan) den in Kahta versammelten Stammeskriegern und -chefs eher eine Statistenrolle zu; die eigentlichen Entscheidungsträger waren nach seiner Darstellung die Delegierten der Kürdistan Teali Cemiyeti, einer in Istanbul ansässigen kurdisch-nationalistischen Organisation, sowie ein gewisser Major Noel.

Nun ist dieser Major Noel dem Eingeweihten kein Unbekannter, spielte er doch in der britischen Nahostpolitik der unmittelbaren Nachkriegszeit eine erhebliche Rolle.[7] Seine Version des „Treffens bei Kahta“ steht auch zur Verfügung, da er sie in seinem Diensttagebuch für die Zeit vom Juni bis zum September 1919 festgehalten hat, das als amtliche Veröffentlichung erschienen ist. Nach Noel kam es folgendermaßen zum „Treffen bei Kahta“: Im Juli 1919 reiste Noel in dienstlichem Auftrag nach Istanbul, um dort die Führer der Kürdistan Teali Cemiyeti dazu zu überreden, namhafte Mitglieder ihrer Organisation für eine gemeinsame Mission in Kurdistan unter Noels Leitung zu delegieren. Ihr Auftrag sollte es sein, der pan-islamischen Agitation entgegenzutreten, mit der britenfeindliche Agenten versuchten, die tribalen Kräfte gegen die britische Besatzung in Kilikien aufzuwiegeln.

Im August trafen die Teilnehmer der Mission in Aleppo zusammen und begannen eine Zickzackreise von Dorf zu Dorf und von Nomadenlager zu Nomadenlager, die nach Noels eigenem Bekunden bei etlichen ihrer Gesprächspartner zu einer „Erweckung kurdischer Nationalgefühle“[8] führte, was nicht sonderlich verwundert, denn Noel war selbst in britischen Kreisen verschrien dafür, mit [– S.11 –] geradezu fanatischem Eifer seine Idee von der Schaffung einer „Nordkurdischen Föderation“ zu verfolgen, worunter er einen Vasallenstaat in den damals jenseits der britisch kontrollierten Zone liegenden Teilen Kurdistans verstand.

Als die Gruppe Anfang September in Malatya Station machte, geriet sie unversehens in den Kampf zwischen der Sultansregierung in Istanbul und der sich damals formierenden Widerstandsbewegung unter Mustafa Kemal. Der Gouverneur von Elazığ, Ali Galip Bey, befand sich nämlich gerade in Malatya und versuchte, im Auftrage der Sultansregierung unter den Stämmen des Umlands Kämpfer für eine tribale Streitmacht zu werben, die unter seinem Kommando einen Kongreß der Widerstandsbewegung, der soeben in der Stadt Sivas unter Mustafa Kemals Präsidentschaft zusammengetreten war, auseinanderjagen sollte, um so der möglichen Ausrufung einer Gegenregierung zuvorzukommen. Bevor jedoch Ali Galip Bey imstande war, seinen Plan zu verwirklichen, näherten sich bereits Mustafa Kemal treu ergebene Truppen der Stadt und der Gouverneur mußte sich in die Berge unter den Schutz des sultantreuen Reşvan-Stammes flüchten. Mit ihm flohen die Mitglieder der Noel-Mission, denn Mustafa Kemal hatte sie öffentlich beschuldigt, die eigentlichen Drahtzieher hinter dem von Ali Galip Bey geplanten Angriff auf den Kongreß von Sivas zu sein, und die anrückenden Soldaten waren daher nicht zuletzt hinter ihnen her.

Zwei Tage lang (11.-12.9.) beriet man die Lage hoch oben in den Bergen im Dorf Kahta (oder Rafa) zusammen mit Haci Badr Ağa, dem Chef des Reşvan-Stammes. Ali Galip Bey rief zum Angriff auf Sivas auf, doch die Reşvan meinten, Sivas sei sehr fern und die Soldaten in Malatya nah, da solle man doch lieber diese angreifen, damit träfe man schließlich auch die Feinde des Sultans. Aus Furcht, die ganze Sache könnte in eine allgemeine Plünderung Malatyas entarten, blies der Gouverneur die Aktion am Ende – zur Erleichterung Haci Badr Ağas – offiziell ab und suchte sein Heil in der Flucht.[9] Aber auch die Mission Noels nahm ein abruptes Ende, denn kaum hatten britische Stellen Kenntnis davon bekommen, in was er hineingeraten war, wies man per Express die Kommandatur in Aleppo an, Noel umgehend aus dem Verkehr zu ziehen, bevor er noch mehr Unheil anrichten möchte.[10] Oberst Bell wurde deshalb [– S.12 –] eilens als trouble shooter nach Malatya entsandt und löste dort die Noel-Mission auf der Stelle auf, woraufhin die Gebrüder Bedir Khan sich nach Istanbul absetzten und Noel auf direktem Weg nach Aleppo zurückkehrte.

Da die Darstellung Noels bis ins kleinste Detail durch Dokumente bestätigt wird, die Mustafa Kemal seinem berühmten Rechenschaftsbericht – im Türkischen einfach nur Nutuk („Die Rede“) genannt – von 1927 beifügte, darf man davon ausgehen, daß sein Bericht die Ereignisse korrekt wiedergibt.[11] Vergleicht man Sureya Bedir Khans Version damit, so findet man die Grundelemente des Geschehens auch bei ihm wieder. Daß er bei kleineren Details ‚Ausschmückungen‘ vornahm, so daß etwa die Rolle seiner beiden Brüder Celadet und Kamuran stark in den Vordergrund tritt oder sich die Zahl der bei Kahta versammelten Krieger glatt verdreifacht[12] ist eher unerheblich gegenüber der völligen Verkehrung der Rolle der britischen Beteiligten und insbesondere Noels. Absicht dieser ‚Korrektur‘ der Wirklichkeit war wohl zu zeigen, daß „der britische Imperialismus“ schon unmittelbar nach dem Krieg eine Strategie des Verrats an den „Rechten der kurdischen Nation“ verfolgte und daß somit der „Verrat von Lausanne“ – die Briten hatten sich bei den neuen Friedensverhandlungen in Lausanne 1923 anders als noch in Paris 1919/20 nicht mehr für die „kurdische Option“ stark gemacht, d.h. die Möglichkeit eines separaten Staates „Kurdistan“ fallen lassen – von vornherein geplant gewesen war.

Nun kann man dem Autor daraus im Grunde keinen Vorwurf machen, politische Propagandaschriften sind keine wissenschaftlichen Abhandlungen, und Sureya Bey hätte, selbst wenn ihm damals die entsprechenden Archive zur Erforschung der tatsächlichen britischen Absichten offengestanden hätten, wohl kaum ein Interesse daran gehabt. Ihm war nur an einer Ehrenrettung des kurdischen Nationalismus gelegen; er mußte sich und der Welt erklären, warum man die ‚große Chance‘ des Jahres 1919, als es noch keine starke kemalistische Bewegung gab und die Macht des Sultans am Boden lag, nicht hatte nutzen können. Und so erfand er seine „Dolchstoßlegende von Kahta“.

Basile Nikitine wiederum hat nichts anderes getan, als Bedir Khan zusammenzufassen, dabei aber einige kleine Fehler eingebracht. Zunächst datiert er das Ereignis um ein Vierteljahr falsch, dann spricht er unbestimmt von „den kurdischen Chefs“ und läßt so offen, wieviele es waren, obwohl seine Vorlage nur erwähnt, daß die attackierten Gebrüder Bedir Khan dreitausend Krieger zu ihrem Schutz mobilisierten, und dazu bedurfte es kaum mehr als eines oder [– S.13 –] zwei gewichtiger Chefs.[13] Tatsächlich war ja nur ein einziger Stammeschef anwesend, nämlich Haci Badr Ağa, Chef der Reşvan. Als letztes – und das ist die eigentlich gravierende Veränderung – stellt Nikitine explizit die Verbindung her zu den Verhandlungen in Paris, die bei Bedir Khan noch zwischen den Zeilen stand. Einen Kopierschritt weiter, bei Küchler, hat man es dann mit „einer anscheinend großen Zahl von Stammesführern“ zu tun, die in „einer großangelegten Aktion“ für „die kurdischen Unabhängigkeitsforderungen“ kämpfen wollten, weil sie eigentlich auf den Erfolg „ihrer“ Forderungen in Paris nicht mehr warten wollten, doch dann vom „General“ Bell betrügerischerweise daran gehindert wurden.

Im Grunde haben Nikitine und Küchler die Intention Bedir Khans, die „Dolchstoßlegende von Kahta“, völlig korrekt erfaßt und ihr in bester Absicht zu einem passenden Gewand verholfen, doch mit wissenschaftlicher Recherche hat das Ergebnis wenig zu tun. Denn was bei Bedir Khan noch klar als polemische Propaganda zu erkennen war, erscheint bei ihnen ungeprüft in einem wissenschaftlichen Kontext, und so pflanzen sie ungewollt die Ideologie des kurdischen Nationalismus fort, statt zu einer Aufklärung über ihn beizutragen. Genau dieses wohlwollende Kopieren, ohne die Stichhaltigkeit der Vorlage zu prüfen, ist das Hauptproblem, unter welchem die reichhaltige Literatur über die kurdische Gesellschaft bislang leidet. Viel zu häufig werden die Projektionen, die Fehlinformationen und das politisch motivierte Wunschdenken von AutorInnen, die dem kurdischen Nationalismus nahestehen, fraglos als wissenschaftlich verwertbare Fakten akzeptiert.

Daraus ergab sich für mich die Notwendigkeit, in dieser Arbeit zwei Stränge gleichzeitig zu verfolgen: Erstens eine Aufarbeitung des bisherigen Standes der Literatur, nach Möglichkeit unter Abgleichung der Fakten an den Standardwerken der Nachbarwissenschaften Iranistik, Turkologie bzw. Islamwissenschaft allgemein, und zweitens eine Kritik des Gebrauchs der Kategorien „Nation“ und „Nationalismus“ im Zusammenhang der Entwicklung der kurdischen Gesellschaft. Entgegen meinen ursprünglichen Intentionen nimmt der erste Aspekt immer wieder großen Raum ein, wobei ich es nicht per se für wichtig halte, ob der Emir Bedir Khan von Botan nun im Jahre 1847 sechs Wochen oder sieben Monate gegen eine osmanische Belagerungsmacht in seiner letzten Festung ausgehalten hat. Wichtig wäre mir vielmehr, nationalistische Mythenbildung und Geschichtsumschreibungen durch Konfrontation mit beweisbaren Fakten als das offenzulegen, was sie sind, nämlich bestimmte Weisen, die Welt im Kopf neu zu konstituieren. Die Vergangenheit bekommt so eine nationale Matrix [– S.14 –] übergestülpt, die sie für die Zeitgenossen gar nicht gehabt haben kann. Das Problem ist,daß diese Weise die Welt zu erfassen, sich heute allgemein durchgesetzt hat, common sense geworden ist, wodurch verständlich wird, wie teilweise noch die plumpesten ‚Neudichtungen‘ für heutige AutorInnen Plausibilität gewinnen konnten.

Weite Teile dieser Arbeit sind daher dem Bemühen gewidmet, die vornationale Verfaßtheit der kurdischen Gesellschaft in der Zeit vor dem 20. Jahrhundert gegen die übliche, ex post nationalisierende Perspektive herauszuarbeiten. Folglich spielen hier Kategorien wie Glaube, persönliche Loyalität, Prestige, Vasallität und Patronage nicht nur die Rolle von Störfaktoren, die die Entwicklung eines „nationalen Bewußtseins“ behindern, sondern sie sind die eigentlichen Schlüsselbegriffe. Der Aufbau der Arbeit folgt dabei im wesentlichen dem Anspruch eines ‚Freilegens‘ zumindest einiger wichtiger Aspekte der Geschichte der kurdischen Gesellschaft von nationalisierenden Projektionen und Rastern, damit eine Rekonstruktion jener Umbrüche möglich wird, die die Entstehung einer kurdisch-nationalistischen Bewegung überhaupt denkbar machten.

Dabei stütze ich mich auf eine nunmehr bereits über zwei Jahrzehnte andauernde Diskussion über das Wechselspiel von Nationalismus, Ethnizität und Tribalismus, die quer durch die Geschichts- und Sozialwissenschaften, die Ethnologie und die Anthropologie geführt wird.[14] Es sind – um einige Namen zu nennen – die Forschungsansätze von Barth, Gellner, Anderson und Hobsbawm, aber auch von Rothermund und Elwert, die meine Arbeit beeinflußt haben – Forschungsansätze, die bisher offenbar spurlos an der „Kurdologie“ vorübergegangen sind. Zumindest muß man zu diesem Schluß gelangen, wenn man die bislang vorliegende Literatur über die kurdische Gesellschaft betrachtet, da hier immer noch ein kaum reflektierter Umgang mit den Begriffen Nation, Ethnie und Stamm vorherrscht. In aller Regel wird nämlich unausgesprochen unterstellt, man könne von einer kurdischen Nation bzw. Ethnie oder von kurdischen Stämmen für das 7. oder 16. Jahrhundert in gleicher Weise sprechen wie für die Jetztzeit. Statt von einer sozialen Konstruiertheit solcher Kategorien auszugehen und somit ihre Gebundenheit an spezifische sozio-historische [– S.15 –] Kontexte mit in die Analyse einzubeziehen – wie es in der genannten neueren Forschung üblich geworden ist –, werden sie unverändert wie überhistorische Entitäten behandelt, die ein vermeintlich über alle Epochen und Zeiten gleichbleibendes Substrat aufzuweisen scheinen – eine Herangehensweise, die fast unvermeidlich zu Anachronismen führen muß.

Um diese Fehlerquelle weitestmöglich auszuschließen, stelle ich an den Anfang meiner Arbeit eine ausführliche Reflexion darüber, was „Kurdisch-Sein“ eigentlich heißen soll bzw. was ich unter der „kurdischen Gesellschaft“ verstehen möchte. Schließlich soll hier nicht schon durch den Sprachgebrauch etwas unterstellt werden, das es in der kurdischen Gesellschaft vor dem 20. Jahrhundert nicht gegeben hat: nämlich Wahrnehmung der sozialen Welt in nationalen Kategorien. Im Laufe der Untersuchung stellte sich mir immer klarer dar, daß die Wurzeln des kurdischen Nationalismus – und somit der kurdischen Nation – nicht in den Abgründen der Geschichte, etwa bei den Medern, zu suchen sind, sondern an der Wende zu unserem Jahrhundert.

Von daher mag die zeitliche Eingrenzung der Arbeit auf die Spanne vom 7. Jahrhundert bis zum Jahre 1925 zunächst verwunderlich erscheinen, doch ist das Zurückgehen bis auf Mohammeds Zeiten darin begründet, daß die Einbettung der kurdischen Gesellschaft in die islamische Welt einen wichtigen Schlüssel zum Verständnis ihrer vornationalen Struktur bildet. Die Wahl der Grenze zur Gegenwart hin – in gewissem Maße natürlich auch vom Zwang zur Begrenzung des Umfangs der Arbeit diktiert – fiel auf das Jahr 1925, weil in diesem Jahr die Aktivitäten der ersten ‚lupenreinen‘ kurdisch-nationalistischen Bewegung, der Azadi, zugleich kulminierten und endeten, da die Azadi mit dem Scheitern des „Sheikh Sait-Aufstandes“ zusammenbrach.

Ziel dieser Arbeit ist es also, die Ergebnisse der neueren Nationalismus- und Ethnizitätsforschung fruchtbar zu machen für die Erforschung der Entstehungsgeschichte eines konkreten, nämlich des kurdischen Nationalismus. Gleichzeitig soll anhand einer Analyse der Literatur zur kurdischen Gesellschaft und zur kurdischen Nationalbewegung herausgearbeitet werden, wie die Wahrnehmung gesellschaftlicher Entwicklungen und Beziehungen durch ein unreflektiertes nationales Apriori verzerrt und in spezifische Bahnen gezwungen wird.

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Fußnoten:

1
Einzig die ehemalige UdSSR bildete hier in der Vergangenheit eine Ausnahme, aber selbst in Erivan, St. Petersburg (Leningrad) und Moskau, wo institutionalisierte „kurdologische“ Forschungseinrichtungen existieren, war bislang eine strikte Beschneidung des Themenspektrums auf ethnologische und linguistische Aspekte Voraussetzung für ‚freies Forschen‘. Wie sich die Nachfolgestaaten Armenien und Rußland in dieser Hinsicht verhalten werden, ist gegenwärtig noch nicht klar zu erkennen.
2
Auch der seit dem sog. „Golfkrieg“ (1991) zu verzeichnende Boom an neuen Veröffentlichungen über Kurdistan, bzw. an Wiederauflagen längst vergriffener Werke, hat hier nicht viel bewirkt. Anders steht es mit der Fülle an türkischsprachigen Werken zum Thema, die seit 1989 in stetig wachsender Zahl erscheinen und nicht selten bislang kaum zugängliches Material verarbeiten. Leider ist es mir nur teilweise möglich gewesen, diese Titel noch nachträglich einzuarbeiten. Doch für die Zukunft ist von dieser Seite eine wirkliche Belebung der Forschung zu erwarten.
3
Küchler Öffentliche Meinung S.169
4
Nikitine Les Kurdes S.196
5
Ich bin an dieser Stelle Frau Prof. Joyce Blau, Paris, zu großem Dank verpflichtet für die großzügige überlassung einer Kopie dieser Rarität.
6
Chirguh [Bedir Khan] La question kurde S.29 (meine übersetzung); es ist allerdings in der Fachwelt nicht ganz unumstritten, ob dieses Broschüre wirklich von Sureya oder nicht eher von seinem jüngeren Bruder Celadet Bedir Khan stammt. Joyce Blau und Martin van Bruinessen sprechen nach brieflichen Mitteilungen vom 24.12.1990 bzw. 31.8.1990 für Sureyas Urheberschaft, Kamal Fuad hingegen wies in einer persönlichen Mitteilung auf Celadet. Die arabische Übersetzung (Al-qadiya al-kurdiya Kairo 1930) stammt nach Fuads Meinung sicherlich von Ali Avni, eine Ko-Autorenschaft von Bedir Khan und Avni beim Originaltext wollte er daher auch nicht ausschließen.
7
“British policy [toward the Kurds] during 1919 could well be called the Noel policy. Edward William Charles Noel was a British intelligence agent who was active in attempting to ascertain the viability of a policy that supported an independent Kurdish state or, at least, a viable autonomy for the Kurds.” (Olson The Emergence of Kurdish Nationalism S.52)
8
“There has been a considerable awakening of Kurdish national sentiments and feeling owing to our visit.” (Noel Diary of Major E.M. Noel S.13)
9
“September 10th. Towards dawn we were awoken by an alarm that 100 infantry mounted on mules with two machine guns were approaching the town to effect our arrest as well as that of the Wali. [...] We climbed 2,000 feet up the mountains, and encamped at the Reshwan village of Rafa at 2 p.m. The Wali, the Muttessarif and Haji Badr Agha arrived here safely in the evening. [...] September 11th. The situation here is somewhat complicated. The Wali has produced an Iradeh from the Sultan ordering him to raise a body of Kurdish sowars in whom he can have confidence, and march against Mustapha Kemal at Sivas. [...] The Kurds [...] see no reason why they should march to Sivas when they can attack the Turks a few hours away at Malatia. [...] September 12th. The Wali has finally made up his mind that a Kurdish tribal attack on Malatia is open to too many risks, and he has therefore decided to dispers the tribal gatherings as soon as possible. The Kurdish chiefs are on the whole relieved.” (ebenda S.23f)
Siehe: Bell „Review of the Civil Administration“ S.71
Es geht um die Dokumente 56-82 im Dokumentenband zu Kemals Rede. Siehe: Mustafa Kemal Pascha Die neue Türkei, 1919-1927. Bd.3 S.38-56
In einem telegrafischen Lagebericht des Gendarmeriechefs von Malatya an die Zentrale in Sivas heißt es, die Zahl der bei Kahta versammelten Kämpfer habe etwas unter eintausend betragen. Siehe: «Document 78, le Commandant de gendarmerie aux honorables membres du Congrès de Sivas, Malatia, 14-9-1919» in: ebenda S.52
Der kommandierende Offizier der nach Malatya entsandten Truppe traute allein dem örtlichen Stammesführer Haci Kaya zu, bei Bedarf dreitausend Bewaffnete ins Feld führen zu können. Siehe: «Document 67, l'Officier d'Ordonnance du IIIème Corps d'Armée au Commandant du IIIème Corps d'Armée Sivas, Malatia, 17-9-1919» in: ebenda S.46
Üblicherweise wird heute der von Fredrik Barth herausgegeben Sammelband Ethnic Groups and Boundaries. The Social Organization of Culture Difference (1969) als einer der Impulse angesehen, die die Debatte auslösten. In seiner Einleitung postulierte Barth damals, daß es sinnvoller sei, ethnische Gruppen über den sozialen Akt der Aufrechterhaltung von ethnischen Grenzlinien zu definieren als über die von ihnen an den Tag gelegte kulturelle Gemeinsamkeit: “When defined as an ascriptive and exclusive group, the nature of continuity of ethnic units is clear: it depends on the maintenance of a boundary. The cultural features that signal the boundary may change, and the cultural characteristics of the members may likewise change – yet the fact of continuing dichotomization between members and outsiders allows us to specify the nature of continuity, and investigate the changing cultural form and content. [...] The critical focus of investigation from this point of view becomes the ethnic boundary that defines the group, not the cultural stuff that it encloses.” (Barth „Introduction“ S.14f)